MusikBlog - Entdecke neue Musik

Reeperbahn Festival 2022

Strahlende Sonne, angenehme Temperaturen und am Mittwoch schon um 17:00 Uhr belebt trubeliger Spielbudenplatz. Das Reeperbahnfestival aus der Zeit vor Covid ist wieder da und lebt schon pulsierend, bevor es angefangen hat.

„Keine Einschränkungen“ ist der Zauberbegriff dieses Jahr. Auch logistisch dazugelernt. Nach dem Desaster letztes Jahr mit den massiv reduzierten Kapazitäten gibt es dieses Jahr eine Auslastungsampel und Delegierte aus der Branche und zahlendes Publikum werden zu gleichen Teilen bedient. Einziger Wermutstropfen im Vergleich zu Prä-Covid – die Anzahl der Locations ist deutlich reduziert.

Das Festival Village am Heiligengeistfeld auch schon gut besucht. Hohe Erwartung liegt in der chilligen Atmosphäre. BDRMM auf der Fritz Cola Bühne. Gefälliger Post-Punk mit leichtem Wave-Einschlag und eingängigen Synthies. Guter Einstieg in das lange Wochenende. Leider wie gewohnt eine etwas undankbare Bühne für die Band. Echt viele Leute da, aber richtige Stimmung kommt leider selten auf.

Die Reeperbahn jetzt komplett gesperrt. Auf Höhe vom Mojo eine Bühne mitten auf der Straße. Menschenmassen drängen sich an allen Seiten. Der komplett öffentliche Überraschungsgig von Kraftklub findet eindeutig viel Ansprache.

Die Bazzookas reißen wieder ihren Bus ab. RBF Normalität wieder erreicht. Etwas weniger eng im UWE, angenehm gefüllt. Public Display Of Affection – die Überraschung des Abends. Die quirlige Tänzerin Madeleine Rose steht keine Sekunde still. Auf der Bühne, vor der Bühne, überall im Publikum. Angry Burlesque meets Ausdruckstanz. Der Sound des Kollektivs irgendwo zwischen düsterem bass-lastigem Post-Punk mit Punk- und Jazz- Attitüden. Madeleines Stimme variiert von netten Duetten hin zu wildem Schreien. Tolle Live-Band.

Musikalischer Kontrapunkt mit nicht weniger Energie – Nuha Ruby Ra in der Skybar vom Molotow. Obwohl der Molotow Backyard schon fast platzt, füllt sich der kleine Raum erst sehr kurz vor Beginn. Eine Frau, zwei Mikros, krachiger Sound vom Band und unheimlich viel Energie. Massiv treibender Tribal-Industrial trifft auf avantgardistische Stimm-Kunst. Still stehen unmöglich.

The Mysterines extrem angesagt. Die Meute drängt sich vor der Türe vom Molotow Club dichter und drängeliger als die erste Reihe einer angesagten Boyband. Indie-Rock mit Garagen-Touch. Eingängig und gut tanzbar. Bis zum Ende konstante Steigerung der Stimmung. Leider nutzt es sich musikalisch etwas über den Gig hinweg ab.

Das Publikum bei Lime Garden danach erstaunlich übersichtlich, obwohl sie für den Anchor Award nominiert sind. Abwechslungsreicher Indie mir einigen guten Ansätzen beschließt den Abend.

Der Donnerstag startet mit Lola Marsh im Grünspan. Eingängiger Indie-Pop-Rock mit Folk Einschlägen. Man merkt ab den ersten Takten, dass da Profis auf der Bühne stehen und keine Newcomer mehr.

The Haunted Youth im Nochtspeicher, erneut Anchor Nominees. Psychedelich angehauchter Post-Punk-Pop mit Biss. Emotionale Ernüchterung trifft auf Wucht. Nett zu hören, solide Show, gute Stimmung. Aber ein Stück fehlt noch zu euphorischer Begeisterung.

Ab ins Molotow, der Backyard platzt aus allen Nähten, wenige Takte von Highschool mit deutlichem The Cure Touch im Vorbeigehen.

In der Molotow Skybar das nächste Highlight. DITZ aus Brighton. Das tolle Debütalbum noch recht frisch. Live hängen sie die Latte noch viel höher. Im wahrsten Sinne bis zur Decke, da klettert Sänger Cal Francis mehr als nur einmal herum. Geschminkt und im Seiden-Unterkleid bricht er mit allen Konventionen eines normalen Konzerts. Mikroständer bereits zu Beginn mitten im Publikum. Auf der Bühne befindet er sich nur, wenn er auf den Boxen herumklettert oder leere Bierflaschen nach Resten absucht. Mit düsterer Spannung wummert und zerrt der Bass unaufhaltbar nach vorne. Trocken stampfende Drums geben den Rest bis alles in Feedbacks eskaliert. Stumpfe akustische Gewalt ohne Obertöne. Abriss.

Ebenfalls aus Brighton Opus Kink unten im Molotow Club. Die Jungs reißen nicht den Raum ab, sondern musikalische Konventionen. Punk meets Saxophon und Trompete. Auch im Auftreten meist zwei disjunkte Bands auf der Bühne, die zu einer Symbiose verschmelzen. Außergewöhnlicher Spaß, sieht man nicht alle Tage.

Der Freitag beginnt mit Mine in der Elphi, die sich sichtlich freut, ihren Auftritt, der bereits vor zwei Jahren geplant war, nachzuholen. Mit den Gästen Fatoni und AB Syndrom liefert sie eine mitreißende Show, die zum selten gesehenen Mittanzen auf den ehrwürdigen Rängen und frenetischem Jubel nach jedem Song führt.

Danach wieder im Grünspan. Mia Morgan. Schlager-artig gespielter Wave-Pop. Absolut massentauglich und unkomplex holt sie ihr Publikum gewohnt gut ab. Trotz etwas zu festival-erprobten Ansagen und Animation steht ihr Meinung und menschliche Entwicklung glaubhaft im Raum.

Kurze Überbrückung bei Thumper im Molotow Backyard. Immer noch geiler Sound, im Freien nimmt das Publikum das gelassener und eskaliert nicht.

Im Gruenspan dann Petrol Girls. Die wichtigen, wütenden Texte werden von Frontfrau Ren Aldridge sehr offen und emotional, teilweise agitatorisch, erläutert und durch Punk-Rock ohne viele Finessen unterlegt.

Whispering Sons im Indra nebenan das nächste Highlight. Die charismatische Sängerin Fenne Kuppens lässt einen in wenigen Bewegungen vergessen, dass sie auch noch eine super Band dabei hat. Ihre dunkle Stimme, Mimik und Bewegungen fesseln den Blick jede Sekunde. Live übertrifft die mühsam kontrollierte Energie die Düsterheit der Platte um Längen. Stimmung könnte nicht besser sein.

Danach wieder im Gruenspan die ukrainische Rapperin Alyona Alyona, Anchor Award Gewinnerin 2019. Die ehemalige Kindergartenleiterin rappt bewusst auf Ukrainisch und bringt den Saal zum Kochen, auch wenn ihr derzeitiges Hauptanliegen natürlich dem Beenden des Krieges gilt.

Ihnen folgen rauchen im Indra (wir könnten langsam einen Tunnel zwischen den zwei benachbarten Venues gebrauchen), Gewinner des Krach+Getöse Awards dieses Jahr. Der Auftritt von Sängerin Nadine könnte widersprüchlicher nicht sein. Konstant über beide Ohren strahlend im netten Kleidchen schreit sie in Mikrofon, dass Ohrenstöpsel Pflicht sind. Einmal angeschaltet, machen sie keine Gefangenen und reißen 18 Tracks in Rekordzeit ab. Mit wenigen düster-bedrohlichen Pausen ist ein Stück gehetzter als das andere. Etwas mehr Bühnenerfahrung wird dem Sound gut tun. Alles in allem zu übersteuert, vor allem der Gesang von Nadine bei den „ruhigen“ Stücken kaum zu hören. Lautstark kräftiger Abschluss des dritten Tages.

SamstagAnna Calvi in der Elphi. Lange darauf gewartet, wird es endlich wahr. Anna hat Geburtstag, Fans verteilen rote Aufkleber für die Handy-Lampen, damit das Publikum sie damit begrüßt. Leider macht nur eine Reihe mit. Der Location angemessen, startet sie ruhig, ab dem zweiten Stück mit Unterstützung von vier Streicherinnen. Viele alte Stücke, eine sehr nostalgisch angehauchte Präsentation. Zum Ende „Don’t Beat The Girl Out Of My Boy” und ein neues Stück. Die Gitarren-Virtuosin geht trotz Elphi mit ihr durch. Endlose Feedbacks, Gitarrenkopf über den Bühnenboden geschleift bis die Gitarre am Ende wimmernd am Boden liegt. Der Sound schraubt sich in unendliche Dichte, sicher ein Novum für die geweihten Hallen.

In der Zwischenzeit wird der Anchor Award 2022 an Cassia verliehen, nachdem die fünf weiteren Acts VLURE, EKKSTACY, Lime Garden, Philine Sonny und The Haunted Youth ebenfalls um die Gunst der Jury buhlten, dieses Jahr bestehend aus Urgestein und Stammmitglied Tony Visconti sowie Bill Kaulitz, Tayla Parx, Pelle Almqvist und Pabllo Vittar.

Danach verzaubert die wunderbare Stella Sommer mit ihrer Begleitband das Publikum in der St. Pauli Kirche mit ihren behutsam-eindringlichen, herzerwärmenden Songs, von denen zwei sogar ihr Live-Debüt feiern, darunter die erst am Freitag erschienene Single “In My Darkness”.

Die „Reisezeiten“ zwischen den Locations machen uns dieses Jahr zum Molotow-Stammpublikum. Eine Portion Indie von Francis Of Delirium im Club. Christin Nicols im Backyard rockt mehr als ihr Debütalbum.

Sophia Kennedy beeindruckt im Mojo Club, lässt aber die verbreitende Live-Stimmung ihrer Songs stark zwischen großartigem Underground (“Up”) und schlageresker Unterhaltung schwanken. Vielleicht würde eine andere Begleitband ihre emotionale Tiefe stärker unterstützen.

Sinead O’Brien treibt im Molotow Club ihre Interpretation von Spoken Word auf den Punkt. Dunkel reduziertes Stampfen trägt ihren endlosen Sprachfluss auf den Händen. Die Kraft des Sounds unterschwellig, die Energie der Irin wabert durch den Raum. Nicht eine hunderstel Sekunde steht sie still auf der Bühne. Schleichend schließt die Musik auf bis hin zum stampfenden Elektro-Punk ohne Elektro. Das musikalische Highlight zum Ende der vier Tage.

Weniger musikalisch sperren bzw. reißen Enola Gay das Molotow zum Finale ab. Eskalation ab dem ersten Akkord. Es wummert, rollt, zerrt vom feinsten. Die Hälfte des sehr gut gefüllten Raums ein Moshpit. Die Luftfeuchtigkeit sichtbar. Cover von frisch gekauften Schallplatten wellen sich bei der Luft. Beim letzten Track holt die Security noch den Gitarristen von der Bühne, die verbleibenden drei machen unbeirrt weiter. Den Abschlussgag hätte es gar nicht gebraucht, atemlos und patschnass zieht ein befriedetes Publikum erschöpft von vier Tagen an die frische Luft.

Vier Nächte zurück in die „alte“ Normalität tut richtig gut. Chilliges beisammen sitzen, Gedränge, Tanzen, dicht gepackte Menschen mit guter Laune. Hoffen wir, dass jetzt nicht alle krank werden und freuen uns auf das nächste Jahr.

Ein besonderer Dank wieder an die Organisator*innen des Festivals. Sie bieten nicht nur die Plattform Keychange, sondern nehmen sich damit auch ernst. Im Durchschnitt ist der Anteil von Künstlerinnen auf Festivals einstellig. Beim Reeperbahn Festival ist es kein Problem von 24 (größtenteils) gesehenen Acts 17 erleben zu dürfen, deren Stärke von Frauen ausgeht. Vielen Dank dafür.

Facebook
Twitter

Schreibe einen Kommentar

Das könnte dir auch gefallen

Login

Erlaube Benachrichtigungen OK Nein, danke