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Mir fehlte der Versuch, das Potential zu sehen – Lie Ning im Interview

Ekstase, Emotionen, Eleganz: Mit seinem Debütalbum “utopia” zeigt Lie Ning jetzt endlich auch als Gesamtkunstwerk, wie viel Musik zwischen Detailverliebtheit und Pop-Affinität passt. Vor der Veröffentlichung seiner ersten Platte sprachen wir mit dem interdisziplinären Künstler über die Verbindung von Marginalisierung und Utopie, die Kraft des Tanzens und Intimität durch Kommunikation.

MusikBlog: Hi Peer, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, über das tolle neue Album zu sprechen. Wie geht’s dir gerade in Bezug auf das Release?

Lie Ning: Mir geht’s sehr gut. Ich bin gerade im Studio für Sachen, die nach dem Album passieren und mit Leuten, die sehr toll sind und es macht wirklich Spaß. Es fühlt sich deswegen besonders toll an, das Album loszulassen, weil so viele andere Sachen passieren.

MusikBlog: Dann ist es jetzt aber für dich wahrscheinlich erst recht eine außergewöhnliche Phase, das Debütalbum herauszubringen, wenn der Songwriting-Prozess schon länger her ist und du gedanklich schon bei den nächsten Sachen bist?

Lie Ning: Ja, aber ich freue mich vor allem darauf, diese Songs live spielen zu können. Für mich ist das erst der Moment, in dem die Musik wirklich real wird. Das Album ist jetzt schon besonders, weil die Songs, die ich vor zwei bis drei Jahren geschrieben habe, jetzt Leute erreichen, die das alles ganz anders interpretieren und mir dann schreiben. Und in solchen Momenten merke ich dann erst “Wow, stimmt, darum geht’s ja auch!” Das ist schon alles sehr besonders.

MusikBlog: Ich fand es auch sehr spannend, dass du dein Album “utopia” genannt hast, denn gerade mit Utopien verbindet man gleichzeitig tausend Dinge und gar nichts Konkretes. Was bedeutet der Begriff für dich?

Lie Ning: Eigentlich hast du das schon perfekt in Worte gefasst: Es ist der Versuch, sich in eine Richtung zu bewegen, ohne dass man sich eine bestimmte Welt vorstellen kann. Utopien sind eben unerreichbar. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass alles in den letzten Jahren sehr dystopisch wurde. Und das natürlich aus Gründen, was hinsichtlich Klimawandel und Weltpolitik passiert, ist wahnsinnig frustrierend. Und gleichzeitig hilft es überhaupt nicht, wenn wir in den Künsten dann nur dystopische Bilder aufmachen. Mir fehlte der Versuch, das Potential zu sehen, und darauf zu schauen, was wir schon schaffen. Es war mir wichtig, das zu benennen – und deswegen war “utopia” der perfekte Titel.

MusikBlog: Ich habe auch das Gefühl, dass gerade für marginalisierte Communities diese Denkweise sehr wichtig ist. Es ist ja nicht direkt Eskapismus, aber es ist auch ein Politikum, den Kopf nicht komplett in den Sand zu stecken.

Lie Ning: Voll, vielleicht ist es sogar ein bisschen Eskapismus, der auch relevant ist. Ich hatte, während ich das Album geschrieben habe, einen Traum, der mich total inspiriert hat, und in dem Traum ist die ganze Welt untergegangen. Aber drei schwarze Trans-Frauen hatten sich auf den Himalaya gerettet und das waren die drei letzten Personen, die überlebt haben. Trotz all der Kämpfe, die wir verloren haben, waren das die letzten Personen, die es geschafft haben. Und das hat mir so viel Kraft gegeben, das war so ein starkes, schönes Bild. Das war natürlich auch super utopisch.

MusikBlog: Das ist ja auch mal schön, dieses ganze Thema Utopie nochmal kreativer aufzufassen, als das bislang gemacht wurde. Das ganze Album dreht sich aber ja auch viel um persönliche Themen und eigene Emotionen. Hast du in diesem ganzen Prozess auch neue Sachen über dich erfahren?

Lie Ning: Hun­dert­pro­zen­tig. Ich finde es lustig und daher ist es auch ein kleines Kompliment, dass du sagst, dass sich das Album sehr persönlich anfühlt, denn sehr vieles ist gar nicht persönlich. Ich habe viel auf einem fiktiven Charakter basieren lassen, den ich vorher erstellt habe. Dann habe ich anhand dessen angefangen, die Songs zu schreiben. Viele Songs handeln von engen Freund*innen von mir – “beautiful” ist für eine Trans-Frau, eine Freundin von mir, die ich beim ganzen Prozess auch viel begleitet habe.

Aber im Schreib-Prozess ist natürlich auch ganz viel Persönliches mit eingeflossen. Ich habe immer wieder auf dem Weg von London nach Berlin festgestellt, wie viel ich doch über mich selbst geschrieben habe. Das waren total intensive Momente. Nachdem ich jahrelang nicht wusste, wie ich es formulieren sollte, habe ich dann “pressure and release” geschrieben – und dieser Song ist beispielsweise sehr persönlich. Dann habe ich die Demo davon in London gehört, es hat geregnet, ich war allein – und ich hab so angefangen zu heulen, weil es so befreiend war. Ich hatte endlich die Worte dafür gefunden und konnte das Thema für mich abschließen. Das war total schön.

MusikBlog: Wenn man gerade durch Stücke über andere Menschen viel über sich erfährt, gibt es ja auch so eine Verbindung zwischen sich und den anderen.

Lie Ning: Total und wir haben auch den Prozess genutzt. “sunnyside up” ist über Erfahrungen, die meine engste Freundin in der Schulzeit gemacht hat, die viel mit psychischen Erkrankungen gekämpft hat. Im Prozess des Schreibens haben meine beste Freundin und ich dann immer gesprochen und alles rekapituliert – wo waren wir damals? Wie schön ist es, dass wir jetzt hier sind! Wir verkaufen nicht nur ein Image, wir haben diese Erfahrungen wirklich gemacht, dass es schöner werden kann.

MusikBlog: Was ich auch spannend finde, ist dass du ein sehr interdisziplinärer Mensch bist, der auch viel mit auf Bühnen und mit Kunst unterwegs ist. Wo siehst du da die Verbindungspunkte oder fällt dir das schwer, da eh alles ineinander fließt?

Lie Ning: Ich bin total dankbar für Musik, denn es war die letzte Kunstform, in die ich reingegangen bin. Vorher habe ich viel mit Film und Mode gemacht und getanzt. Aber ich war auch so lost nach der Schule, weil ich nicht wusste, was ich machen soll, wenn mich so vieles interessiert. Musik war der Moment, in dem ich die Elemente zusammenführen kann. Musik kann ohne Worte und das ganze Drumherum existieren, was es zu einer wahnsinnig starken Ausdrucksform macht. Gleichzeitig kann man aber dazu hinzufügen und ein Gesamtkonzept schaffen.

Da ich nicht aus der Musik komme und oft etwas überfordert war, war ich dankbar, die anderen Sachen schon zu kennen. Wenn ich mal steckengeblieben bin, habe ich zum Beispiel ein Tanzprojekt gemacht, das mir erlaubt hat, woanders hinzudenken. Oder auch das Album-Artwork war etwas Besonderes – ein Freund und ich haben uns über zwei Monate regelmäßig getroffen, uns die Musik angehört und besprochen, was visuell passen könnten. Und am Ende ist es meiner Meinung nach eines der schönsten Cover und man brauchte dafür nichts. Wir haben es mit Licht und einer Rauchmaschine bei ihm im Zimmer gemacht und ich bin immer wieder hochgesprungen und jetzt sieht es aus, als wäre es ein super teurer Unterwasser-Shoot.

MusikBlog: Finde ich interessant, da man sich beim Betrachten des Endprodukts die Reise auch genau andersherum hätte vorstellen können. Das Bild ist so stark, dass man schon auf Basis dessen ein ganzes Album schreiben könnte. Auch bei der Betrachtung der Videos habe ich mich gefragt, ob die visuelle Entsprechung der Musik schon beim Schreiben in deinem Kopf war. Aber scheinbar war es dann ja doch andersherum, oder?

Lie Ning: Bei den Videos hatte ich eine sehr starke Idee, wie ich das umgesetzt haben möchte, aber COVID hat es leider etwas unterbrochen. Es ist daher nicht ganz so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe. Nichtsdesotrotz war es total besonders. Gerade “pressure and release” hat mir da – positiv gemeint – das Herz gebrochen.

MusikBlog: Mir auch als Zuschauerin. Es ist auf jeden Fall sehr intensiv, sich das anzuschauen. Du meintest ja vorhin, dass da jede*r etwas anderes hinein interpretieren kann und doch gibst du mit so audiovisueller Begleitung ja schon gewisse Rahmen vor. Hattest du da denn klare Ideen, wie das alles aussehen soll?

Lie Ning: Gar nicht! Das hat mich auch total überrascht, ich war noch im Senegal und das Video-Team hatte mir geschrieben, dass sie drei Monate in L.A. sind und was mit mir machen wollen. Und sie wussten nicht, dass ich ohnehin bald da sein würde. Ich hatte also sehr wenig Vorbereitungszeit. Wir haben also in anderthalb Wochen das gesamte Konzept geschrieben. Sie wussten aber nicht, dass das die Geschichte weitererzählen soll, die ich vorhin erwähnt habe. Dann habe ich noch eine gute Freundin gefragt, ob sie Zeit hat. Als schwarze queere Person war sie genau die Person, die mich abgeholt und berührt hat. Die Berührungen im Video waren total echt, ich habe so krass gezittert, als ich aus dem Ozean kam. Und sie hat mich stark angefasst und beruhigt. Es war so absurd.

MusikBlog: Das sieht man auf jeden Fall auch im Video. Ist es für dich denn herausfordernd, andere Personen so in deinem kreativen Prozess mit einzubeziehen oder ist das ohnehin deine Art, Kunst zu machen?

Lie Ning: Beides. Ich liebe Kollaborationen und ich liebe es, andere Perspektiven in meiner Arbeit zu sehen. Das einzige, was das mit ihr macht, ist sie noch reicher zu machen. Aber gleichzeitig ist mir sehr bewusst, welche Perspektiven ich reinlassen möchte. Teilweise habe ich Erfahrungen gemacht, die sich nicht gut angefühlt haben, deswegen schreibe ich auch viel in London. Ich mag diese Pop-Idee nicht, jeden Tag nach dem nächsten Hit zu suchen. Ich möchte Themen besprechen, die teilweise auch echt schwer sind. Dafür brauche ich Zeit und Leute, die sich darauf einlassen können.

MusikBlog: Klar, gerade in der Musikindustrie gerät man da oft auch an die falschen Leute. Gerade, weil du aus dem Tanz kommst, finde ich es sehr schön, dass du mit “offline” oder “love” die Disco-Tunes im Vordergrund hast. Was bedeutet dir Tanz bei deiner Musik?

Lie Ning: Tanz ist das, was uns am Leben erhält. Wenn du dich viel mit Tanz auseinandersetzt, merkst du, dass Tanz einfach Bewegung ist. Das, was professionelle Tänzer*innen gerade im modernen Contemporary machen ist, sehr alltägliche Bewegungen zu analysieren und sich dem zu verpflichten. Es ist etwas, was uns allen zur Verfügung steht. Und gerade die Pandemie hat gezeigt, dass viele Leute physische Probleme und Schmerzen hatten, da sie sich nicht mehr spontan bewegt haben. Du lässt deinen Körper erst richtig los, wenn du tanzt. Dadurch spannst du zum Beispiel Muskelpartien an, die du sonst nie benutzt und es fühlt sich nicht an wie Sport. Und das ist so essentiell und vital. Und ich muss sagen, dass ich es schade finde, dass meine Musik nicht so tanzbar ist. Aber ich sehe meine Musik als die Musik für danach. Ich feiere ja selbst total Dance, Electronica und Techno, aber es braucht auch Leute, die einen abholen. Wenn du nach Hause kommst, kannst du dich mit meiner Musik zudecken.

MusikBlog: Irgendwo sind diese Einflüsse ja auch trotzdem im Album zu finden. Ist Tanzen denn etwas, das du dir für deine Konzerte wünschst?

Lie Ning: Auf jeden Fall, für diese Tour aber glaube ich nicht. Gerade freue ich mich vor allem auf das Zusammenspiel mit meiner Band. Ich arbeite auch eng mit meiner Lichttechnikerin zusammen und wir versuchen, durch das Licht ein schönes Element hinzubekommen. Aber in Zukunft auf jeden Fall, da ich auch viele Freund*innen habe, die professionell tanzen.

MusikBlog: Gibt es irgendetwas, das du dir wünschst, wenn das Album draußen ist? Hast du da eine eigene Utopie im Kopf, was bei den Menschen passieren könnte, wenn sie die Songs hören?

Lie Ning: Ich hoffe, dass Leute es zulassen können. Ich hoffe, dass Leute sich die Zeit nehmen und dem Album zuhören. Denn das Album ist sehr nuanciert und hat viele Details, auch in der Produktion. Gerade in diesen schnelllebigen Zeiten, wo wir uns alle erwischen, wie wir an unsere Handys gehen, nehme ich mir selber immer wieder vor, mich auf ein Album und einen Moment einzulassen. Dann höre ich es auf einer Platte oder CD und lasse zu, es zu fühlen, denn wir werden oft schnell davon weggebracht, uns selbst zu fühlen. Und ich wünsche mir natürlich auch, dass ich noch mehr mit den Leuten zusammenarbeiten kann und die Leute noch fairer bezahlen kann.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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