Musik gilt als kreatives Berufsfeld. Viele Menschen, die Bürojobs nachgehen, bewundern es daher als Verwirklichung von Träumen. Dass auch die Wurzeln der Popmusik in einem geordneten 9-to-5-Tagwerk liegen, lernen wir in der Auseinandersetzung mit „The Raveonettes Sing…“ – dem nicht gerade einzigartigen Comeback-Album der einzigartigen The Raveonettes.

Das Phänomen The Raveonettes muss man jüngeren Musikfans unter 23 gerade nochmal erklären. Das Album eignet sich jetzt zwar kaum, um wirklich Feuer zu fangen, sofern man die Gruppe nicht vorher schon kannte, es ist aber eine gute Gelegenheit, um an ihren Stellenwert und frühere Ruhmestaten zu erinnern. Genauso wie an die Originale all der Songs, die The Raveonettes hier covern.

„The Raveonettes Sing…“ beschränkt sich aufs Nachspielen sehr alter Nummern. Die älteste Vorlage geht ungefähr aufs Jahr 1955 zurück, verfasst vom legendären Schmuse-Rock’n’Roller Buddy Holly und seinem Freund Bob Montgomery. Das jüngste Lied datiert auf 1981. Es stammt von der Stil-Clash-Band The Cramps.

The Raveonettes zählen zu den kenntnisreichsten Künstlern, was Musikgeschichte betrifft. Ein Cover-Album erscheint daher legitim und erst einmal interessant. Das Duo weiß um die Bedeutung zahlreicher Stile und Mikro-Genres, vergessener Interpreten. Anhand der Verzweigungen rund um ihr Repertoire ließe sich perfekt die Historie der Indie-Musik von Doo-Wop und Rockabilly über Surf und Garage bis Punk und Post-Punk nacherzählen.

Die beiden Dänen, die man klanglich für Neuseeländer oder Kalifornier halten könnte, mögen es, ins Sommerloch hinein zu veröffentlichen. Vor fast auf den Tag genau zehn Jahren droppten sie „Pe’ahi„, eine wunderschöne Huldigung an die Surfer-Kultur Hawaiis und an Surf-Rock.

Lange vor diesem Vermächtnis in Sachen atmosphärischer Longplayer mit Konzept, punkteten The Raveonettes im Jahr 2002 mit ihrer Debüt-EP „Whip It On“. In einer Zeit, als dieses Veröffentlichungs-Format völlig out war, schwammen sie auf der Welle der damaligen ‚The‘-Bands – allerdings ohne das zu machen, was die meisten anderen taten, nämlich Post-Punk (obwohl der am Rande, wie auch jetzt, immer eine Prise anklingt).

Zusammen mit Ladytron und Wolf Parade waren The Raveonettes einer der unterscheidbarsten, originellsten der damaligen Newcomer und einer der wenigen Acts, die im Retro-Vintage-Sound vor allem auf Melodie und auf einen Mischmasch aus Stimmungen, statt auf Geschrammel setzten.

Beide Raveonettes, Sharin und Sune, sind Multi-Instrumentalisten. Sharon Foo entstammt der dänischen Punk-Szene und ist eine der immer noch seltenen Frauen an der Bassgitarre. Zur Horizont-Erweiterung trieb sie sich in ihren 20ern in Indien herum. Sie brachte Kenntnisse klassischer Hindu-Musik aus dem Sufi mit zurück (der dank Peter Gabriels Label Real World bei uns ein bisschen bekannt wurde) und ihre Offenheit ist sicher eine gute Voraussetzung, um 43 bis 69 Jahre alte Musik zu covern.

The Raveonettes sind außerdem das Musterbeispiel des psychedelischen Klang-Spektrums. Von düsteren Tönen, mit The Doors-Prägung, über utopisch-verträumte Momente, bis zum verzerrten Fuzzy-Sound, beherrschen sie alles zwischen leise und laut in diesem Segment.

Natürlich zahlt sich das auf „The Raveonettes Sing…“ aus, am meisten von Minute 1:14 bis 1:40 in „Goo Goo Muck“, dem stärksten Abschnitt der Platte. Hier lösen sie die Töne der Garage-Gitarre und des – haarscharf – fast übersteuerten Verstärkers in einer Art Zerstäuber-Effekt auf. Die Starkstrom-Klänge zerpulvern regelrecht. So etwas hört man sonst nirgends.

Auch die ekstatischen Riffs in „Shakin‘ All Over“ entspringen dieser hohen Psychedelic-Kompetenz und werten einen Oldie spannend auf.

Zahlreichen Angeboten von Major-Firmen gaben die Nostalgiker nur ein einziges Mal nach. War der Durchbruch geschafft, lösten sie sich aus der großen Industrie jedoch wieder heraus. Diese Haltung hat sicher auch mit ihrem Manager und Produzenten Richard Gottehrer zu tun, der mit nunmehr 84 Jahren als graue Eminenz hinter dieser Platte die hauptsächliche Inspirationsquelle sein dürfte.

Richard Gottehrer – kein Pseudonym! – trug zu etlichem Charts-Futter der 1960er bei, darunter dem One Hit Wonder „Hang On Sloopy“ der McCoys. Hits wurden in jenem Büro-Block quasi am Fließband geschrieben, wohlgemerkt, ohne jegliche IT. Es war die Ära von Lochkarte, Schreibmaschine, Matrizen-Papier und Telegramm.

Jenes „Hang On Sloopy“ gehörte erst ohne Charts-Platzierung den Yardbirds, deren Mitglied Gram Parsons die Raveonettes heute covern, wobei diese Interpretation von „Return Of The Grievous Angel“ leider langweilig ist.

Im Brill Building an der 49. Straße in Manhattan hatte Herr Gottehrer die Büro-Kolleg*innen Carole King und Gerry Goffin. Das später geschiedene Ehepaar gab mit der eigenen Biographie schon die Antwort ’nein‘ auf die Frage „Will You Still Love Me Tomorrow“. 1960 reüssierte das Lied als Jukebox-Kracher für eine Girlgroup und erntete zigtausende Münzeinwürfe.

Autorin Carole nahm das Stück 1971 selbst für „Tapestry“ auf, diejenige LP, die bis heute als das perfekte Amalgam von Soul, Rock und Folk gilt und überdies als Musterbeispiel eines intimen Singer/Songwriter-Stils, der auch mal laut wird. Carole war die Cat Power der Siebziger, da heran zu reichen, fällt The Raveonettes sichtlich schwer, aber immerhin: „Will You Still Love Me Tomorrow“, im Ursprung ein klarer Song mit transparenter Pop-Hook und bei Carole eine Ballade, bekommt von den Raveonettes etwas Geheimnisvolles verliehen.

Die Erfindung des Rades hört sich aber sicherlich anders an. Sogar überflüssig wirkt das fast-eins-zu-eins-Cover eines der am meisten im Radio gespielten Songs: „All I Have To Do Is Dream“ von den Everly Brothers.

Überhaupt ist die Hälfte von „The Raveonettes Sing…“ verzichtbar, was mit hälftig verteilten Singaufgabe zu tun hat. Sune Rose Wagner ist gesanglich der Unspannendere der beiden – er ist die sanfte, Sharin Foo die bissigere, kantigere und ausdrucksstärkere der beiden Stimmen.

Als großer Wurf sticht, mit Sharin Foo als Lead-Sängerin, genau die Aufnahme heraus, die eigentlich die größte Herausforderung darstellt: „Venus In Furs“ von Velvet Underground. Das ist ein Song, den viele Menschen eher unter seiner seltsam getexteten und disharmonischen Hookline kennen – „kiss the boot of shiny, shiny leather“.

Sharin singt gegen eine Verstärker-Wand an. Der Kontrast aus den vehementen Verstärkern und ihrem verführerischen Gesang erzeugt eine Gänsehaut. Betont harmonisch und langsam erwecken The Raveonettes die versponnenen Texte zum Leben. Dabei pulsiert der Tune gerade noch so, dass man mit dem großen Zeh mit wippen kann.

Nachdem die Dänen schon im Jahr 2005 ein Mitglied von Velvet Underground, Trommler Maurice, auf ihr Album „Pretty In Black“ einluden und mit Ronnie Spector, Ikone aller Girlgroup-Popkultur, gemeinsam sangen, ist „The Raveonettes Sing…“ die folgerichtige Fortsetzung und Vertiefung von damals.

Der Zeitpunkt ist sinnfällig. Manche Sänger*innen der Vorlagen starben in jüngster Zeit. Zuletzt Mary Weiss von den Shangri-Las. Deren „Leader Of The Pack“ zählt zur Haben-Seite der Platte. John Cale, der auf „Venus In Furs“ einst Bratsche spielte, erlebt gerade einen sehr späten und unerwarteten Karriere-Frühling. Letzten Sommer wurden The Raveonettes selbst „Opfer“ eines misslungenen, aber von ihnen autorisierten Tribute-Albums, „The Raveonettes Presents: Rip It Off“.

Das neue Cover-Album „The Raveonettes Sing…“ lässt einen zwar etwas ratlos zurück, das Album lässt sich aber als Anstoß verstehen, um Lied-Originale, deren ursprüngliche Künstler*innen und das bisherige Schaffen von The Raveonettes zu entdecken. Damit kann man sich wochenlang oder zumindest ein Wochenende beschäftigen und viel Schönes wiederfinden.

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