Nick Cave hat kürzlich geäußert, dass Musik die einzige (legale) Möglichkeit sei, eine transzendente Erfahrung zu erleben. Und genau das passierte gestern Abend in der nahezu ausverkauften Münchner Olympiahalle, der letzten Deutschland-Station der aktuellen The „Wild God“ Tour von Nick Cave And The Bad Seeds.
Zuvor versuchte The Murder Capital mit ihrem wuchtigen Post-Punk-Sound, die Halle auf das Kommende einzustimmen. Das irische Quintett entfesselte seine rohe Energie, während Frontmann James McGovern in seinen Ansagen den kommenden Hauptact würdigte. Trotz der düsteren, atmosphärischen Songs schienen die Dubliner etwas verloren in der großen Halle, der enge schwitzige Club ist wahrscheinlich das vertrautere Terrain.
Pünktlich um 20:30 Uhr begannen dann Nick Cave und seine Bad Seeds, die auf dieser Tour einen vierköpfigen Gospelchor beinhalteten, mit „Frogs“ vom neuen Album und noch nie in seiner langen Geschichte hat die Olympiahalle so audiophil im 3D-Breitwand-Sound erklungen. Untermalt wurde die klangliche Imposanz von Caves himmelwärts gerichteten Prediger-Gesten.
Das folgende „Wild God“ begann Nick Cave zunächst am Klavier, doch wie üblich zog es ihn schnell zum Publikum, um die Hände seiner Fans zu ergreifen und von Beginn an die Olympiahalle in einen intimen Raum des gemeinsamen Erlebens zu verwandeln.
Vor dem folgenden „Song Of The Lake“ teilte der Protagonist, dem das Leben seine Schicksalsschläge tief ins Gesicht gegerbt hat, mit dem Publikum, dass er immer noch jeden Tag dazulernt, was dieser – für ihn beunruhigende – Song eigentlich bedeutet. Danach sagte er einem Besucher, der ihn offensichtlich filmte, dass der Song für ihn ist, wenn er das Handy für einen Moment einsteckt.
Zu „O Children“ vom 2004er Album „Abattoir Blues/The Lyre Of Orpheus“ erklärte Nick, dass er das „schon ältere“, „mid-period-Nick-Cave“ Stück geschrieben hat, als seine Kinder noch klein waren und er sie beim Spielen beobachtet hat. Bereits jetzt war die emotionale Verbindung zwischen ihm und wortwörtlich „seinem“ Publikum greifbar.
„Jubilee Street“ leitete Nick Cave mit den Worten „This song is about a girl“ ein, die eigentlich traditionell „From Her To Eternity“ ankündigen, was jedoch danach – mit gleicher Ansage – folgte. Der Song von 1984, der schon in sehr vielen verschiedenen Variationen gespielt wurde (für die originale Version empfehlen wir den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders) und irgendwie auch immer die jeweils aktuelle Epoche von Nick Cave widerspiegelt, fügte sich mit seinem Big-Band-Sound nahtlos in den Abend ein.
„Long Dark Night“ vom aktuellen Album liegt Nick Cave offenbar sehr am Herzen, denn er erklärte den Zuschauer*innen, dass sie – obwohl sie es vielleicht noch nicht realisiert haben – diesen Song lieben werden. Das taten dann auch wohl die meisten, denn längst war dieses Konzert zu einem nahezu spirituellen Ereignis geworden, das das Publikum in einen riesigen Wattebausch der Empfindungen bettete.
Der Klassiker „Tupelo“ wurde dann vom Protagonisten des Abends ausführlich vorgestellt, als ob es sich um einen neuen Song handeln würde. Nach der Zeile „O ma-ma rock your baby“, übergab Cave das Mikro zum Halten an das Publikum und ahmte mit seinen Armen Baby wiegende Bewegungen nach.
Die nach „Conversion“ eingeführte Zuschauer-Interaktion „You’re so beautiful! Munich! Stop!“ geriet dann zum, fast nach jedem Song wiederholten, Mantra, bevor die Hits „Red Right Hand“ und „The Mercy Seat“ das Ende des Hauptteils einläuteten. Nick Cave war nun ununterbrochen am schmalen Bühnenrand zu finden, immer wieder Hände anfassend und beschwörend auf das Publikum einwirkend. Nach „Red Right Hand“, das textsicher vom Publikum mitgesungen wurde, stimmte Cave den Song nochmal an und ließ die Zuschauer*innen sehr ergreifend minutenlang allein singen.
Die Zugabe ließ nicht lange auf sich warten. Das noch am Vorabend in Prag gespielte „O Wow O Wow (How Wonderful She Is)“ wurde übersprungen und auch seine Ansage zu „Papa Won’t Leave You, Henry“ brach der Australier kurzerhand mit „Fuck it, let’s just play the song“ ab.
Der anschließende „Weeping Song“ geriet dann tatsächlich zu einem. Einige der – mittlerweile auch auf den Rängen aufgestandenen und tanzenden – Zuschauer*innen hatten Tränen in den Augen, während Nick Cave auf der Bühne – mit längst abgelegter Krawatte und halboffen stehendem Hemd – einen Sturm der Gefühle entfachte. Dabei schien jede seiner Gesten wie aus den Tiefen seines menschlichen Erlebens geschöpft.
Das den Abend abschließende „Into My Arms“ vom 1997er Album „The Boatman’s Call“ wurde dann vom Publikum im kollektiven Einklang mitgesungen, ohne dass es einer besonderen Aufforderung (außer der Erinnerung von Cave, dass es ein sehr schöner Song sei) bedurfte.
Ein unglaublich herausragendes Konzertereignis, das ein heilsamer Seelenbalsam für die Zuschauer*innen und wohl auch für Nick Cave selbst und seine Bad Seeds war.