Yann Tiersen war noch nie jemand, der den geraden Weg gewählt hat. Mit „Rathlin From A Distance | The Liquid Hour“ legt der französische Komponist und Multiinstrumentalist – ja, der mit dem bezaubernden „Amélie“-Soundtrack – ein Album vor, das sich anhört wie eine Reisekarte der Seele. Mal ganz bei sich, mal mit Blick auf die Welt – immer zwischen leiser Einkehr und innerem Aufbegehren.

Der erste Teil des Albums, „Rathlin From A Distance“, besteht aus acht Solo-Klavierstücken, die wie ein meditativer Rückzug wirken. Jeder Track ist nach einem Ort benannt, den Yann Tiersen 2023 auf einer Segelreise gemeinsam mit seiner Frau, der Sängerin Émilie Quinquis, angesteuert hat – vom abgelegenen Fastnet-Leuchtturm mitten im Atlantik über die rauen Küsten der Färöer und Shetland-Inseln bis zu den stillen Wassern des Kaledonischen Kanals in Schottland.

Die Musik ist dabei alles andere als bloße Landschaftsbeschreibung: „Papa Stour“ mit seinen zerbrechlich-hohen Tönen, die plötzlich aufschreien, oder das titelgebende „Rathlin From A Distance“, das zwischen tiefer Melancholie und hoffnungsvollem Leuchten hin und her schwingt – Tiersen komponiert hier mit Blick nach innen, aber immer mit einer Brise salziger Meeresluft im Ohr.

Sein Klavierspiel entfaltet eine beinahe hypnotische Wirkung. Jeder Ort auf seiner Route scheint eine neue Ebene des Bewusstseins zu öffnen. Die Stücke bestehen oft aus sich wiederholenden Mustern, die langsam anschwellen, kippen, sich wieder zurückziehen – fast wie die Gezeiten. Es ist Musik, die Aufmerksamkeit fordert – und dafür mit Tiefe belohnt.

Und dann – der Bruch. Der zweite Albumteil „The Liquid Hour“. Plötzlich sind da elektronische Klänge, psychedelische Rhythmen, ein spürbar politischer Unterton. Hier öffnet sich der Klangraum weit: Ambient trifft auf treibende Grooves, elektronische Sounds fächern sich auf, vielschichtig und kraftvoll.

Besonders sticht der Gesang von Ehefrau Émilie Quinquis heraus, die auch solo als Quinquis unterwegs ist. Auf „Dolore“s, einem episch aufgebauten Synth-Track, verleiht sie dem Album eine eindringliche, fast kämpferische Energie.

Tiersen gelingt damit ein seltenes Kunststück: Er verwebt das Intime mit dem Globalen, das Meditative mit dem Widerständigen. Der Ozean ist hier nicht nur Kulisse, sondern Sinnbild – für Selbstfindung, für Offenheit, für das Überwinden von Grenzen.

„Rathlin From A Distance | The Liquid Hour“ ist kein Album für nebenbei. Es ist eine Reise – leise, politisch, kompromisslos schön. Ein spätes Meisterwerk eines Künstlers, der nie den sicheren Hafen gesucht hat.

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