Zaho de Sagazan – Musikwunder aus Frankreich. Hierzulande Newcomerin beim kommenden Reeperbahn Festival, dort füllte sie bereits riesige Hallen und eröffnete die Filmfestspiele von Cannes.

Jetzt erste Tour in Deutschland. Die neue Georg Elser Halle im Bunker ist lange ausverkauft mit 2.200 Plätzen. Endlose Schlange vom Bunker bis hinter die Bushaltestelle. Alle müssen durchs Drehkreuz für den Aufstieg. Und alles wird gründlichst durchsucht. Praktisch nichts darf mit auf den Weg. Die Menge an verbliebenen Flaschen und Essen wächst, während andere noch hektisch ihren Döner runterwürgen.

Dann geht’s fast den ganzen halben Kilometer vom „Bergpfad“ nach oben. Fast alle der knapp 400 Treppenstufen. Das mag Samstagnachmittag dazu einladen, die Aussicht zu genießen. Als Einlass zu einem Konzert mit über 2.000 Leuten ist es eher schwierig und der Laune wenig förderlich.

Oben angekommen, zweite Kontrolle geschafft. Die Halle präsentiert sich multifunktional neutral. Getränke nur auf einer Seite, überforderte Garderoben verteilt und als Behelf im Saal aufgebaut.

Gute Idee, eine Halle zu schaffen, die für Konzerte genauso genutzt werden kann wie für Sportveranstaltungen und Flohmärkte. Gute Sache, dass es jetzt eine Halle gibt, die mehr Kapazität hat als Docks und Große Freiheit 36 und offen ist für den erfolgreicheren Teil alternativer Musik. Schade, dass der Versuch, das alles zu ermöglichen, eine sterile Funktionalität erzeugt.

Das Publikum sehr divers. Jugendliche in Begleitung der Eltern treffen auf Frührente.

Ruth Lyon eröffnet als Support. Singer/Songwriter-Stil. Piano und Drums ergänzen ihren Gesang. Wie so oft quasselt die Hälfte der Halle respektlos über die Musik hinweg. Zwischenzeitlich ändert sich der Sound durch Einsatz von Geige und tiefem Wummern. Kurz blitzt auf, warum das Duo aus Newcastle eingeladen wurde. Weiter geht es, ist folkig und nett zu hören, ohne jedoch große Begeisterung zu entfachen.

Ganz anders nach dem Umbau. Zaho de Sagazan setzt sich unprätentiös unauffällig hinters Piano. Der Saal tobt trotzdem. Leise und fragil klimpert „La fontaine de sang“ in den Raum und baut sich zärtlich langsam auf. Wenige Töne füllen den Saal komplett aus. „Des hommes, les hommes, ces hommes“. Stakkatoartig stotternd interpretiert Zaho das Stück auf der Bühne musikalisch um. Nicht alles klingt mehr romantisch lieblich.

Ein altes Kabel-Telefon. Theaterartiges Intermezzo. Mit „Aspiration“ zeigt Zaho, was sie unter „Berliner Elektro“ versteht. Weniger Chanson, mehr Wumms. Der technoide Beat triggert nur eine Minderheit zu zögerlicher Bewegung.

Ansage zu „Le dernier des voyages“. Nettes Mädel von nebenan. Dieser Charakter verschwindet sofort wieder. Sphärisch in blau-weißem Licht zuckend treibt Zaho de Sagazan den Sound in Richtung Rave.

Zaho war verliebt in einen Comedian, den sie nie kennengelernt hat. Nach 20 Stücken über ihn widmet sie ihm dann eine explizites. „Mon Inconnu“. Die Ansage selbst ist gute Comedy.

Nach dem treibenden Knaller nimmt sie etwas das Tempo raus. „Dis-moi que te m’aimes“ und „Je rêve“ wenig verändert und verträumt.

Das kann man über „Tristesse“ nicht sagen. Nahtlos geht es in ein blutrotes Gewitter über. Metallplatten als Percussion ziehen das erste Mal industrielles Donnern in den Elektro.

„Marionnette on naît et on le reste. Ah je déteste. Je déteste“. Endlos wiederholt, ekstatisch, atemlos, verzweifelt. Das Ende hat nicht mehr viel mit ihrem Debütalbum „La symphonie des éclairs“ zu tun. Eine ganz andere Dimension.

Nach „Ô travers“ die längste Pause. Dass de Sagazan mit diesem Stück ihre Sensibilität zu einer Stärke gemacht hat, erzählt sie also nicht nur in den Interviews.

„La symphonie des éclairs“ machte sie in Frankreich berühmt. Der Chanson ist wieder da. Publikum erstaunlich textsicher. Alle singen den Refrain in vielen Varianten.

Die Emotionslage bleibt sensibel. Zum Duett „Old Friend“ klingelt das Telefon und spielt Tom Odells Part ein.

„Genug geweint. Ab jetzt wird getanzt.“ Die kittelartige, Bluse kommt weg. Knallenger Sportbody. Zaho wird den körperlichen Erwartungen heutiger Social-Medien sicher nicht gerecht.

Das kann nur „Ne te regarde pas“ werden. Neu konstruiert. Geräusche treffen auf Musik. Experimenteller Sound tanzbar. „Soll ich den Text erklären? Ihr habt ihn sicher nicht verstanden, das ist wichtig… “Ne te regarde pas!!! Don’t look at yourself!!!“ Zweisprachig neu zu industriellem Knarzen interpretiert geht es weiter.

„You are Germans! Dancing is in your blood. I know electronic music from Berlin“. Ab jetzt treibt Zaha die Eskalation bis hin ins Rotterdam der 90er. Mit „Hab Sex“ verballert sie die letzte Zugaben-Option von ihrer Platte (in der erweiterten Version „Le dernier des Voyages“ vom letzten Jahr) . „Hab Sex mit mir. Hab Sex mit mir.“

Endlosloop. Elternteile schauen verblüfft. Niemand singt mehr laut mit. Ironisch grinsend hält sie das Mikro trotzdem in die Menge. Unterhaltungswert sehr hoch.

Das Problem mit dem Zugaben-Material bleibt bestehen. „Ich habe neun Jahre Deutsch gelernt. Verzeiht mir meinen Akzent.“ „99 Luftballons“ von Nena beschließt den Abend unter großem Applaus.

Die vier Bandmitglieder haben praktisch ein Parallel-Album auf die Bühne gebracht. Alles komplexer, lauter, experimenteller, mitreißender. Beeindruckender Job, beeindruckende Show, beeindruckende Persönlichkeit.

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