The Amazons dienen nicht als Schleichwerbe-Band eines Versandhändlers. Viel mehr führen sie in hymnischer Anmut erst einmal mit Kunstanspruch und ohne ein Wort durch die ersten 83 Sekunden ihres neuen Albums „21st Century Fiction“: Die Keyboards bauen eine sphärische Grundierung, auf diesem Fundament ertönt eine engelsgleiche Stimme mit langem Ah- und Oh-Hauchen. Dann räumen Matt Thomson und eine namenlose Background-Sängerin mit einer Lüge auf, die Herz und Seele belastet.

„Living A Lie“ formt einen der klassischsten Einstiege in ein Album, die man sich denken kann. Der Song widersetzt sich – wie die meisten Tracks hier – dem Druck der Streaming-Branche, mit kurzen oder schematisch formatierten Songs mehr Vergütung zu erzielen.

Umgekehrt hat die Band an anderer Stelle auch Acapella-Überleitungen oder eine Noise-Sequenz mit gestörtem Radioempfang auf Lager. Auf diese Gestaltungsmittel legt sie Wert, um den nachfolgenden Liedern mehr Gewicht beizumessen.

Bei einem weiteren üppigen und episch aufgebauten Song wie „Wake Me Up“ wirkt das sehr passend, da er wachrütteln will, insbesondere für die Tendenzen und Gefahren des 21. Jahrhunderts sensibilisiert.

„Wir wollten eine (…) filmartige Platte (…) und das genaue Gegenteil davon, diese kurze Aufmerksamkeitsspanne zu nähren, die von Künstlern derzeit bevorzugt zu werden scheint“, kommentiert Matt. Dieses Anliegen gelingt herausragend im orchestralen „My Blood“.

Andererseits: Einer Studie der Arte-Sendung „42 – die Antwort auf fast alles“ zufolge funktionieren Lieder in den Charts sehr gut, die oft das Wort ’night‘ verwenden. Dieses bei „Night After Night“ zu zählen, macht schwindlig, so oft wiederholt es sich.

Die Engländer mauern eine stadiontaugliche und pathetische Achtziger-Rock-Pop-Klangwand, die den massiven Songs von The Killers ähnelt, aber ohne sich wie U2 anzuhören und mit klareren Konturen.

Besonders kristallklar erscheint da der Kontrast aus einem Balladen-Teil und einer verstärker-gespeisten Grunge-Explosion in „Joe Bought A Gun“. Das Lied befasst sich mit den Ausreden eines Waffen-Fanatikers, sich gegen mögliche Wölfe vor seiner Haustür schützen zu müssen. Für Dramaturgie zeigen The Amazons in diesem traurig-wütenden Stück ein Händchen und übertreffen sich selbst.

Teilweise setzt das Trio ihre Arena-Power-Rezeptur der drei früheren Scheiben fort. Doch die Struktur eines Album-Spannungsbogens legt zusätzlich eine Überschrift über das Geschehen, als führten The Amazons eine Rock-Oper nach dem Muster von Bowie oder The Who auf.

An David Bowie zu denken, fällt beim Song „The Heat! Pt. 2“ auch klanglich leicht, und wenn die Amazonen immer wieder vom ‚Gasoline‘ singen, kommt textlich sein „Cat People (Putting Out Fire)“ vom gleichnamigen Soundtrack in den Sinn.

Parallel zur Entwicklung hin zu einem konsistenten Longplay-Gesamtwerk voller Dramaturgie trennten sich The Amazons von ihrer bisherigen Plattenfirma Fiction, obwohl die Verkaufszahlen stets großartig waren. Neue Heimat der Briten ist Nettwerk.

Schreibe einen Kommentar

Das könnte dir auch gefallen

Album

Miya Folick – Erotica Veronica

Album

RIKAS – Soundtrack For A Movie That Has Not Been Written Yet

Album

Slowly Slowly – Forgiving Spree

Login

Erlaube Benachrichtigungen OK Nein, danke