Es ist die vielleicht größte Ironie der Musikgeschichte. Eines der bedeutendsten Konzerte aller Zeiten wird im Nachhinein falsch verortet, weil jemand ein Bootleg anfertigt und die falsche Location drauf schreibt. Bob Dylans transformative Show im Mai 1966 in der Manchester Free Trade Hall geht in die Geschichte ein, weil der Songwriter hier allen anwesenden Folkpuristen in die Parade fährt, in dem er den zweiten Teil seines Sets mit elektrischen Gitarren aufmöbelt und damit den Rock’n’Roll auf seine Weise entscheidend elaboriert.

Heute nicht der Rede wert, damals ein Eklat, der von „Judas“-Rufen aus dem Publikum begleitet wird. Der Show die Krone setzt ein Bootleg auf, das den Abend als „Royal Albert Hall Concert“ betitelt und somit irrtümlicherweise von Manchester nach London verlegt. Diesem Bootleg ist es zu verdanken, dass Chan Marshall alias Cat Power nur eines in den Sinn kommt, als sie das Angebot erhält, in der Royal Albert Hall aufzutreten:

Jenen historischen Abend im Mai 1966 Song für Song auf ihre Weise zu interpretieren. 2023 war das, ihr Abend, der längst als Live-Album veröffentlicht und von so viel Zuspruch begleitet wurde, dass sie seither in dieser Aufstellung durch die Welt tourt. An jedem Abend soll auch ihr guter Freund Stephen Malkmus unter den Gästen gewesen sein und Tränen in den Augen gehabt haben, wie Marshall dem Schreiber dieser Zeilen in einem vormaligen Interview verriet. Was sie damals auch zugab: Sie sei so nervös gewesen, dass sie nicht wusste, was sie mit ihren Händen anstellen sollte.

Und so steht sie nun gestern in Ludwigshafen im BASF-Feierabendhaus, in dem etliche Plätze frei bleiben, und scheint von dieser Nervosität auch nach zwei Jahren Tour nichts abgelegen zu können. Sie zupfelt ununterbrochen an ihrem grünen Hosenanzug, tupft sich mehrmals pro Song mit Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht und hustet immer wieder verlegen in die Richtung des noch unbesetzten Schlagzeugs.

Was deshalb unsouverän aussieht, klingt jedoch mitnichten so. Ganz im Gegenteil. Marshalls Stimme ist von Beginn an eine Offenbarung, mit der sie spielt, als sei es das einfachste der Welt. In einem ungewöhnlich großen Abstand zum Mikrofon rangiert sie zwischen zehn und 50 Zentimetern vor und zurück und setzt jede Dynamik, jeden Ton ins Schwarze.

Gesanglich ist sie dem Urheber der Songs meilenweit überlegen. Dessen Gitarren- und Mundharmonikaarbeit verteilt sie auf zwei Mitmusiker, die während des ersten Teils der Show allenfalls puristisch in Erscheinung treten.

Das war abzusehen, schließlich weiß man hier im Vorfeld exakt um die Dramaturgie und den Ablauf des Abends: Es beginnt mit „She Belongs To Me“, geht weiter über „Desolation Row“ und „Just Like A Woman“ – alles in dieser reduzierten Folkstimmung, bei der Gitarre und Mundharmonika nahe am Original bleiben, Cat Power jedoch ihre ganz eigenen Melodiebögen schlägt.

Dass sie dabei nie so weit geht wie der heutige Bob Dylan, der bei seinen Shows die eigenen Songs gerne bis zur unkenntlich verbiegt, gebietet sicherlich auch ein Stück weit der Respekt vor dem Vermächtnis und trifft letztlich den richtigen Ton. Denn niemand ist gedient, wenn „Mr. Tambourine Man“ – bei aller Freiheit, die sich Marshall auch hier nimmt – lediglich am Text erkennbar bleibt.

Danach folgt der Kipppunkt, der „Judas“-Teil, wenn Cat Power ihre Band auf ein Sextett mit zwei elektrischen Gitarren, Bass und Schlagzeug erweitert und mit „Tell Me, Momma“ in den Rock’n’Roll beschleunigt. Sie bleibt dabei weiter der Star, wirkt inzwischen deutlich weniger nervös, kann allerdings auch nicht länger ihre Dynamik so ausspielen wie im ersten Teil.

Außerdem zeigt die Band einige Schwächen. Gerade das Schlagzeug wirkt häufig unentschlossen und unvorbereitet, wenn mehrmals innerhalb der Songs die Art der Drumsticks gewechselt wird und unstet zwischen Ride-Becken und Hi-Hat gesprungen wird.

Immerhin beim finalen und über jeden Zweifel erhabenen “Like A Rolling Stone” funktioniert alles aus einem Guss. Trotzdem bleiben die Arrangements ein kleiner Wehrmutstropfen. Schließlich war Bob Dylan weder ein begnadeter Sänger, noch ein begnadeter Gitarrist. Er war ein überragender Songwriter und womöglich der größte Textdichter in der Geschichte der populären Musik, was ihm 2008 nicht nur den nicht nur den Pulitzer-Preis, sondern acht Jahre später auch den Literatur Nobelpreis bescherte.

Doch gerade deshalb hätte das ein oder andere Arrangement genau so viel wagen dürfen, wie das Cat Power gesanglich getan und mit Bravour gemeistert hat.

Schreibe einen Kommentar

Das könnte dir auch gefallen

Video

Fever Ray – Now’s The Only Time I Know (Therapy Session) – Neues Video

Interview

Ich mache mir nie Gedanken darüber, wie es am Ende klingen soll – Amy Macdonald im Interview

Video

Coach Party – Do Yourself A Favour – Neues Video

Login

Erlaube Benachrichtigungen OK Nein, danke