Wie einzigartig ist das? So hat es sich Carsten Maschmeyer, Tech-Investor, angewöhnt, in der Fernsehsendung „Die Höhle der Löwen“ zu fragen, wenn es um neue Apps, Tüfteleien oder Essensprodukte geht. Dieser Tage passieren in der Musik echte Überraschungen, Innovationen oder Einzigartiges selten. Sudan Archives hat jedoch den Dreh entdeckt, mit dem sie wohl sogar Maschmeyer überzeugen würde.
Auf „The BPM“ taucht sie, gemäß den Beats per Minute im Titel, in tanzbare elektronische Musik ein. Ihre acid-technoiden Töne wirken gleichzeitig hellwach und hypnotisch, streift Elemente aus Tropical-House, Warehouse-Techno, Trap, EDM und Dubstep. Aber über alldem fusioniert sie auch innerhalb des Club-Spielfeldes R&B mit Neo-Klassik. Diese Vermischung richtet weitaus mehr als die Summe von Teilen an.
Brittney Denise Parks, wie Sudan Archives bürgerlich heißt, Gadget Girl, wie sie ihr Alter Ego auf der Platte tauft, erscheint als tanzbare Solo-MC auf einer langen Elektro-LP von bezaubernder Dramaturgie, die wie ein starkes DJ-Set treffsicher Schicht auf Schicht legt.
Immer wieder erscheinen dabei Ton-Schöpfungen, wie man sie selten hört. Mal geraten sie stolpernd und arrhythmisch, bis sie abbrechen, im nächsten Moment orientalisch oder latinokaribisch.
Bei all der Fülle an Erfindergeist und Spiel mit witzigen Effekten, wie sie in den meisten Tracks steckt, gibt es auch einen bewussten Rückgriff auf die späten Siebziger und frühen Achtziger Jahre.
Was damals in den Heimatregionen von Brittneys Eltern in den Metropolen Detroit und Chicago geschah, legte den Grundstein für House, Rave, Techno, Jungle, New Jack Swing und Artverwandtes. Im Zuge früher Strömungen tauchte dann Hip-House auf, meist von männlichen Produzenten und Komponisten mit weiblichen Gelegenheits-Stimmen, denen oft nur eine kurze Karrieredauer mit ein paar Singles beschert war.
Hier knüpft Sudan Archives an, ist aber keine anonyme Session-Aushilfe, sondern selbst die Autorin. Besonders „Noire“ merkt man die tiefsten Wurzeln in jenen Detroiter Diskotheken an, die nach dem Niedergang der Autoindustrie Lagerhallen waren.
Als Abspaltung setzte sich über lokale Szenen hinaus kaum je der Jersey Club durch. Doechii, Bktherula und eine Reihe weiterer Frauen-MCs werten diese Spielart seit drei Jahren wieder auf, lassen sie viral gehen und machen sie erstmals richtig populär. Die zweite Hälfte des Tracks „David & Goliath“ führt den Jersey Club am pursten vor die Ohren. Spuren davon durchziehen das Album an vielen Stellen auch subtil.
Wenn selbst Carsten Maschmeyer von der Einzigartigkeit und auch der mutigen und fleißigen Unternehmerin-Persönlichkeit Sudan Archives überzeugt wäre, würde er schließlich nach Patentschutz fragen: Wie leicht lässt sich „The BPM“ nachahmen?
Nun, dies würde profunde Fertigkeiten als Geigerin erfordern, Kenntnisse in den angesprochenen Spielarten und ihrer Geschichte, virtuoses Springen zwischen Rappen und Singen in einer Person sowie ein Gespür für Offbeat und Know-how im Mastern aller dieser Zutaten zusammen mit anspruchsvollen Beats und Effekten.
Ein grandioses Beispiel dafür, wie die 31-Jährige, die wirklich Geige erlernt hat, sogar Synth-Violinen einsetzt, demonstriert die zweite Minute des Songs „Come And Find You“. Dass es hier bald eine Nachahm- Kaskade geben könnte, ist unwahrscheinlich, und einstweilen dürfte die Vielschichtigkeit und Komplexität auch Künstliche Intelligenz überfordern.
„The BPM“ ist eine Sternstunde in der Genres übergreifenden Musik der 2020er.
