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AnnenMayKantereit – Live in der Großen Freiheit 36, Hamburg

Und dann stehen sie plötzlich da oben, die Inkarnationen des Gewöhnlichen im Superstarformat. Ganz vorne Henning May, das T-Shirt so schlicht wie die Bühne ringsum. Keine Sneakers, sondern schwarzweiße Turnschuhe, keine Frisur, sondern ein lockiges Irgendwas, keine Popstimme, sondern dieser düster grollende Folkbariton zum Auftakt, der „Jeden Morgen“ in die „Große Freiheit 36“ grunzt, als stünde ihr Hans Hartz Pate und doch nicht Rio Reiser.

Dennoch könnte die Aufregung kaum größer sein in der ausverkauften Halle, würde der Sänger von TonSteineScherben aus dem Grabe hierher auferstehen, um im Herzen St. Paulis zu spielen. Es stehen dort aber die sehr lebendigen AnnenMayKantereit, größtmögliches Musikwunder unserer Tage, zumindest in Deutschland, aus globaler Pop-Sicht noch immer eher Dritte Welt als Führungsmacht.

Nur – warum sie da stehen, das wird auch der zweite Gig an gleicher Stelle an diesem regnerischen Frühlingsabend in Hamburg nicht klären. Vier Jungs von kaum Mitte zwanzig, vier Freunde, von denen drei noch bis vor Kurzem als Straßenmusiker die Mütze aufs Pflaster gelegt haben, vier Megastars im Crashkursverfahren, die den gut 1.000 Zuschauern urpünktlich Punkt neun gewaltige Erwartungen erfüllen dürfen, erfüllen müssen.

Sie liefern eine Art Powerfolkpop, in dem sich gern mal „nett“ auf „Bett“ reimt, Balladen mit Tempo wechseln und das Hohelied auf gemütlichen Altbau mit zwei, drei Zimmern gesungen wird, in dem der zuckersüße Henning gern mit einem Mädchen wohnen möchte, das damit locker acht von zehn weiblichen Zuhörern im Publikum zu Feindinnen hätte, was angesichts des gigantischen Frauenanteils in etwa deckungsgleich mit der Gesamtzahl wäre. Sie alle kreischen verlässlich bei jedem Titel, den dieser Frontmann wider Willen eher routiniert als leidenschaftlich ankündigt. Sie alle singen sodann lückenlos mit, was Christopher, Henning, Severin und der einzig bandnamenmäßig ausgegrenzte Malte Huck zum Besten geben. Jeden Hit, den das frisch gebackene Nummer-1-Album „Alles nix Konkretes“ zu bieten hat, also praktisch alle zwölf Tracks.

Die Stimmung ist gut, nicht euphorisch, der Lautstärkepegel ist konstant hoch, nicht übersteuert, das ganze Konzert wirkt leicht schaumgebremst, ohne je langweilig zu sein. Als sei es den Aufsteigern doch noch ein wenig unheimlich, da oben auf dem Pop-Olymp, wo die Luft merklich dünner ist als in Kölns Fußgängerzonen, das eigentliche Biotop des Quartetts.

Aber vielleicht ist es ja genau das, dieses leicht Ungeschliffene auf viel zu großer Bühne. Diese Bescheidenheit, nicht mehr in dieses Konzert hineinstecken zu wollen als erstaunlich guten Sound, atmosphärisch stimmiges Licht und diese Aura des „Wir-gehören-hier-eigentlich-gar-nicht-hin-aber-machen-das-Beste-draus“.

Denn das machen sie, auch wenn sich abermals die Frage stellt, was all die dürren Hipstermädchen links und rechts der Volljährigkeit eigentlich am seltsam konservativen Singer/Songwriter-Blues im Mumford & Sons-Gewand finden. Vielleicht ja, dass er so glaubhaft von den Gefühlen Gleichaltriger erzählt. Wenn Henning arglos lächelnd von Liebe, Freundschaft, Trennung, solchen Sachen erzählt und dazu immer mal wieder die Kinderzimmerharmonika anlegt oder in die Keyboardtasten greift, ist das eben auch ein Statement gegen den ganzen Popbombast diverser Hitparadenplätze dahinter.

So gesehen sind alle selig, als das Ganze nach preiswerter Dauer plus drei Zugaben vorbei ist, „Barfuß am Klavier“ inklusive, der Schmachtsong schlechthin, klar. Und dann sind sie plötzlich wieder weg und man fragt sich, ob sie eigentlich wirklich da waren oder mehr noch: ob sie auch wirklich wiederkommen? Sie werden wohl. In ganz normalen T-Shirts.

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