Ein außergewöhnlicher Ort für ein außergewöhnliches Konzert: das Leipziger Gewandhaus war gestern zum wiederholen Mal die Bühne für einen Auftritt von Chilly Gonzales.
Chansonnier, Lyriker, Entertainer, Produzent oder Pianist – der Kanadier kennt keine künstlerischen Grenzen. Seine Obsession ist, musikalisch zusammenzuführen, was nicht unbedingt zusammengehört, wovon man sich auch am gestrigen Donnerstag einmal mehr überzeugen konnte.
Gonzales erscheint ohne „Political Platform Shoes“, dafür mit obligatem Morgenmantel und Pantoffeln an den Füßen, im ausverkauften Großen Saal und trommelt mit dem „Bongo Monologue“ einen Abend ein, der von Rap über Jazz und Pop bis hin zur Klassik das Portfolio des Maestros abbilden, der Protagonist sich in einen Rausch spielen und sein Publikum vom Start weg mitnehmen wird.
Ob mit feinhumoriger Konversation oder singend am Mikrofon: Die physische Präsenz des Mannes mit Wohnsitz Köln beeindruckt. Im Zusammenspiel mit dem Kontrabass, Schlagzeug, Violine und Synthesizer bedienenden exzellenten Musiker*innen-Quartett (mit dem er später eine A-cappella Performance von Tina Turners „We Don`t Need Another Hero“ ansingen wird) nutzt Chilly alle Möglichkeiten der Akustik der Spielstätte für orchestrale Opulenz bis zu vibrierendem Dancefloor-Boogie.
Wenige Monate nach der Veröffentlichung von „French Kiss“ werden auf der aktuellen Tour „ofenfrische“ Nummern seines im Herbst erscheinenden Albums „Gonzo“ und Klassiker aus dem üppigen Repertoire gespielt.
Das Mitte der Veranstaltung proklamierte Wunschkonzert wird zugunsten des vorbereiteten Programms abgeblasen, dessen Stimmungs- und Tempiwechsel per reduziertem Tastenspiel oder Einsatz des vollen Instrumentarium nicht nur bei „High As A Kite“ perfekt sitzen.
Via „F*ck Wagner“ empfiehlt sich Gonzales – pauke-schlagend – mit seinen Ausführungen zu dem Komponisten nicht direkt für einen Gastauftritt in Bayreuth, unterscheidet an dessen Geburtsort explizit zwischen Kunst und Künstler, sitzt im Konzertverlauf zwischen wildem Sprechgesang – inklusive Rap-Quiz – allein am Flügel, um virtuos Highlights aus seiner „Solo-Piano“-Reihe vorzutragen.
„I.C.E“, eine willkürlich zusammengesetzte Collage aus Werbung und Smalltalk-Geplänkel im Zug, wird in seiner Auflösung zur Hommage an die BRD, der Hit „Take Me To Broadway“ hält das Auditorium nur noch mühsam auf den Plätzen und die Kategorisierung von Spotify-Playlisten und derjenigen, die dafür passende Musik designen, bekommt per „Neoclassical Massacre“ einen Eintrag ins Klassenbuch.
„Surfing The Crowd“ – am Ende geht Chilly Gonzales durch die Reihen, steigt auf und über Stuhllehnen, schüttelt Hände, nutzt mit charmanter Übergriffigkeit Mann und Frau im mittlerweile aus den Sitzen gerissen Auditorium als Stützpfeiler seines akrobatischen Ausflugs.
„Ich lebe die Fantasie, ein musikalisches Genie zu sein“ bekannte der Künstler einst. Der Grat zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist schmal – der Jubel am Ende exzessiver zwei Stunden spricht dafür Bände.