Der Regen kann kommen. Und er kommt. Ganz sicher. Oder doch nicht? Die Blicke der 7.000 Besucher jedenfalls gehen bei diesem merkwürdigen Musikfestival an einem merkwürdigen Ort ständig gen Himmel, als das zweite „Summer’s Tale“ auf dem – zumindest unter Pferdefans – weltberühmten Reitturnierareal nahe Luhmühlen am Mittwoch Fahrt aufnimmt.
Dann kommt der Regen wirklich und die kühl kalkulierte Kopfgeburt des Konzertveranstalters FKP Scorpio verheißt, als die Zuschauerzahl trotz spätherbstlicher Wetterprognosen doch noch in die Fünfstelligkeit rutscht, allenfalls dem Namen nach ein Sommermärchen.
Wie überall im Norden herrschen auch am Rande des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide ja zurzeit kühle Tages- und fast frostige Nachttemperaturen. Eigentlich kein ungewöhnliches Ambiente für Festivals, die bekanntlich chronisch absaufen.
Nur – dieses hier ist eben kein gewöhnliches Exemplar, es ist das gediegenste seiner Art im Pop-Segment. So gediegen, dass auch Klassik-Hörer darin gut aufgehoben wären. So gediegen, dass dem umfassend drainierten Gelände im Vielseitigkeitsreitmekka selbst Dauerregen wenig ausmacht. So gediegen, dass sich die Stammgäste von Scheeßel über Nürburgring bis Wacken also fühlen würden wie im aseptischen OP einer privaten Schönheitsklinik.
Zwischen Hamburg und Lüneburg etabliert sich nämlich seit 2016 eine echte Alternative zum entbehrungsreichen Festivalrestprogramm mit Dosenbier, Dauerkater und Schlammrutschen, Wassersäulenstresstests, Ruhelosigkeit und Rumgeprolle. Oder wie Thees Uhlmann bei seiner Buchlesung im vollbesetzten Hauptzelt schwärmt, das dank der Witterungsverhältnisse deutlich mehr Besucher beherbergt als bei Sonnenschein denkbar: „Danke, dass ihr endlich mal ein Festival für Spießer macht.“
Dafür gibt‘s fröhlichen, ach euphorischen Applaus. A Summer’s Tale ist schließlich die Deluxe-Version der kollektiven Eventkultur und wird dafür vom übernächtigten, dreckverkrusteten, drogenaffinen Underground seit Ankündigung der Premiere vor gut einem Jahr entsprechend deftig gemobbt.
Umgeben von Heidekraut und Pferdenarren treten zwar durchaus handelsübliche Headliner von Sigur Rós bis Parov Stelar, von Amy MacDonald bis Adam Green, von Olli Schulz bis Billy Bragg auf, keine Mega-, aber doch Stars.
Dazwischen jedoch geht es gemütlich zu, beinah kuschelig. Schon am (vergleichsweise sonnigen) Anreisetag laufen lächelnde Menschen jeder Herkunft, Schicht und Altersgruppe in Scharen übers baumgesäumte Grundstück mit den naturgeschützten Heidekrautflächen mittendrin.
Senioren in Funktionsjacken schlendern neben Teenies mit Wursthaar zur Hauptbühne, wo die unverwüstlich liebliche Heather Nova melodramatisch wie einst in den Neunzigern die Schönheit wahrer Liebe besingt.
Hunderte, gefühlt Millionen Kinder zerren derweil ihre Eltern Richtung Zirkuszelt, das kein abgelegener Abstellraum für die Kleinsten ist, sondern ein ausgiebig bespaßter Kernbereich des Territoriums. Am sonnigen Morgen darauf frühstücken erstaunliche viele Frühaufsteher bei einem persischen Problemfilm mit anschließender Diskussion.
Und kurz bevor der erste Schauer Uhlmanns überdachte Literatur-Performance mit Zuhörern füllt, stauen sich vor der Atelierscheune gegenüber die Teilnehmer von Workshops in Kalligrafie, Lachyoga oder „We love energy balls“.
Ob sie der Hamburger Popschüler auf Schriftstellerabwegen nicht doch ein wenig auf die Schippe nimmt, als er sein Publikum im Anschluss zur Übungseinheit „Chrystal Meth in einer Stunde aus‘m Baumarkt für 100 Euro“ einlädt, sei mal dahingestellt. Tatsache ist: wer aufs Summer’s Talle kommt, will sich nicht maximal mit Substanzen und Sound druckbetanken; er/sie/es befindet sich auf einer Art biodynamischem Sommerkurzurlaub, der auch im Ferienhaus an der Nordsee schnell mal sieben Tage Regenwetter bedeutet.
In Kopf und Magen so clean wie klar, trifft den Durchschnittsast – Typ saturierter Exhippie – die meteorologische Realität entsprechend umso härter. Die Mundwinkel hängen demnach etwas tiefer als zu Beginn, da alles zwar bitterkalt, aber hell und behaglich zu werden versprach.
Kein Wunder: so richtig angenehm werden die Witterungsverhältnisse auch am Freitag nicht sein, wenn Noel Gallaghers High Flying Birds nach einer verstörend langen Musikpause bis in den späten Nachmittag gefälligen Britpop für jedermensch liefern, was in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme ist: Bei kaum einem Festival ist der Frauenanteil größer – sowohl auf als auch vor den Bühnen.
Als das deutsch-schweizerische Balladenduo BOY am heutigen Abend kurz vorm Finale das große Zelt mit sehr feinen Popsängerinnen erfüllt, erweist dem emanzipatorischen Geist dann sogar das Wetter seine Referenz und verkneift sich jenes Schmuddelwetter, das den grünen, aber soliden Untergrund partout nicht ruinieren will.
„It’s so damn sober here“, hatte sich Heather Nova beim Verlassen der Bühne über den Zuschauerbereich davor gewundert, was mit „nüchtern“ ebenso gut übersetzt wäre wie mit „vernünftig“.
Beides kriegen die zahlenden Gäste hier für gesalzene Preise von 74 Euro pro Tagesticket bis 219 Euro für vier Tage mit Comfort-Camping reichlich geliefert: Sauberkeit, Sicherheit Ruhe und Ordnung, verabreicht zu viel sanfter Gitarrenmusik, gelegentlich gewürzt mit etwas Härte, gar Hip-Hop.
So sieht das Manufactum-Entertainment ohne Drogen, Lärm und Schweinereien aus, ein radikales Kontrastprogramm zum Mainstream des Abdrehens. Um dem zumindest kurz mal nah zu sein, könnte man sich beim Sommermärchen übrigens ein abwaschbares Halstattoo malen lassen oder zumindest sein Skateboard im Kunsthandwerkzelt bemalen lassen. Hat aber keiner gemacht…