Von der berüchtigten Schwabenschwemme in Berlin ist bereits vieles berichtet worden, aber selten Gutes. Von einer Schwabenschwemme in Hamburg hingegen war bislang noch nie die Rede, also auch nicht negativ konnotiert.

Im Postpunk dagegen sollte die Schwabenschwemme langsam mal Tagesgespräch sein. Dann müsste eine der vielen Postpunkbands aus Stuttgart von Karies über Die Nerven bis Human Abfall vielleicht auch nicht mehr in einem Schuhkarton namens Westwerk auftreten, sondern einige hundert Meter westlich den Innenstadtring runter nach St. Pauli, wo der Punk ohne Post davor endemischer ist als am Elbfleet mit Luxushotel zur Linken und Privatklinik zur Rechten. Einerseits.

Andererseits: Das Westwerk ist schon auch Punk, nur eben Punk der gesetzteren Art, der diesen Ort vor 32 Jahren den Vorläufern der Gentrifizierung durch Besetzung entrissen hat und sich im prächtigen Altbau seither beharrlicher zeigt als so mancher Club auf weniger umkämpftem Terrain.

Hier also tritt an einem Sonntagabend nach elf vor rund hundert Gästen ein immer noch sehr junger Veteran der angesprochenen Hardcore-Variante mit lyrischer Strahlkraft auf: Max Rieger.

Seit einiger Zeit ergänzt er sein Gruppenprojekt Die Nerven durch das Soloprojekt All diese Gewalt. Nun tourt der Gitarrist und Sänger damit durch Kleinstclubs wie das Westwerk.

Doch siehe da: trotz der unterdurchschnittlichen Größe passt es nahezu perfekt zum aufgekratzten Sound des Quartetts, einer Mischung aus Kraut, Noise und Wave, die den rechteckigen Saal zum Zittern bringt. Nicht zum Kochen. Wir sind hier in Hamburg, bitte!

Das Altersspektrum reicht zwar ungelogen von maximal 18 bis mindestens 58, die Bewegungsabläufe jedoch orientieren sich spürbar an den Älteren, nicht den Jüngeren. Das hat mit hanseatischem Understatement zu tun, womöglich auch mit dem überpräsenten Habitus von Trägern schwarzer Oberhemden zu schwarzen Hochwasserhosen vor Ort.

Ganz sicher aber hat es mit Max Rieger zu tun. Wie so oft barfuß wirkt sein Pop dort, wo die Hamburger Schule einst laufen lernte, noch klassenbewusster als andernorts. Mal flüstert, mal scheppert der Gesang und schafft es dabei, gleichermaßen distanziert und berückend zu sein, klinisch und poetisch, radikal und konventionell.

Gut ein Dutzend Lieder lang erscheint das Publikum daher mehr fasziniert als hingerissen, fast als müsste es sich schwer konzentrieren, um sie zu verstehen. Und so, wie Rieger nebst Musikern, zwei davon mit Schnauz-, einer mit Vollbart, seltsam emotionslos die winzige Bühne durchs Auditorium hindurch betreten haben, so zurückhaltend wird auch jedes Songfinale honoriert: Respektvoll, nie euphorisch.

Dies allerdings widerspricht nur augenscheinlich dem lautstarken Brett, das All diese Gewalt vorwiegend in den Raum nagelt. Riegers Musik, besonders das neue Album „Welt in Klammern“, ist einfach zu intelligent, zu verkopft, zu präzise und versiert für echte Ekstase – selbst wenn es live um ein Drittel beschleunigt und das Dreifache aufgedreht wird.

Den Grundstein für diese Atmosphäre gebannter Bezauberung hat zuvor bereits die Vorgruppe Levin Goes Lightly vom gleichen Standort gelegt, mit der All diese Gewalt nicht nur den Bassisten teilt, sondern auch den Hang zur Flächigkeit mit verträumter Note.

„Pop ist simpel formuliert Musik mit dem Potenzial, populär zu sein“, so hat Max Rieger sein Soloprojekt an dieser Stelle hier beschrieben. „Im Gegensatz zu vielem, was explizit unter der Klammer Pop läuft, heißt das allerdings nicht, es allen recht machen zu wollen.“

Dieses ungewöhnliche Popkonzert in einer Hamburger Clubikone hat es niemandem recht gemacht und doch alle überzeugt. Schwaben können halt alles, sogar Hochdeutsch.

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