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Bon Iver – Live in der Max-Schmeling-Halle, Berlin

Vielleicht weil es sonst kaum einen Künstler gibt, der die Brücke zwischen progressiver Komposition und Pop-Präsenz so gut geschlagen hat wie er, vielleicht weil am diesen Abend einfach alles perfekt inszeniert wirkt und vielleicht auch nur, weil das alles in Berlin stattfindet.

Justin Vernon alias Bon Iver tritt in der Max-Schmeling-Halle auf, holt damit seine ausgefallene Deutschlandtournee nach und lockt so ziemlich jeden in die riesige Mehrzweckhalle.

So ziemlich jeder davon muss auch den Weg durch die Post-Dämmerung nehmen, an einem verlassenen Kinderspielplatz vorbei und mit Einblick in das Basketballtraining einer örtlichen Mannschaft. Man stellt sich in die Reihe, sieht durch das Fenster irgendwelche Menschen Körbe werfen und fragt sich, ob man hier richtig steht.

Richtig für einen Künstler, dem man kleine Locations so gern zuträgt, der in kleinere Hallen doch so gut reinpasst. Nicht alle fragen sich das, klar, manche haben auch einfach nur Bock. Bock darauf, das neue und wegen „Big Red Machine“ schon beinahe nicht mehr als aktuell betitelbare Album „22, A Million“ endlich live zu sehen. Wer dafür gekommen ist, wird nicht enttäuscht.

Nachdem eine verzerrte und tiefe Stimme über die Lautsprecher die Massen ins Auditorium – klingt schon mal schöner als Mehrzweckhalle – beordert, geht es nämlich recht zeitnah los.

„22 (Over Soon)“ und „10 Deathbreast“ eröffnen das Set, wobei letzterer Song letzte Zweifel daran auslöscht, Bon Iver könne eine solche Halle ausfüllen. Bass erschüttert und Publikum jubelt bei eindrucksvoller Lichtshow.

Bei „715  – Creeks“ wird dann sogar das dauerhaft anhaltende Gejubel aus dem Publikum hör- und spürbar, was wohl an der wegfallenden Instrumentalebene liegen muss. Kathartisch brüllt Vernon den Text zu einem Song heraus, der trotz so unkonventioneller Struktur jeden im Saal zufriedenstellt.

Liegt es also vielleicht doch an Berlin, dass dieser Freitag in den Gedächtnissen der Menschen, die vor Ort waren, jedenfalls als ein besonderer zurückbleiben wird? Daran, dass jeder das experimentellste Album Bon Ivers sowieso am geilsten findet?

Klar, irgendwie schon. Aber irgendwie ist es auch einfach die kompromisslose und makellose Performance von Vernon, der Set und Auftritt für niemanden als sich selbst konzipiert zu haben scheint.

An den vorderen Rändern der Bühne stehen kleine Lampen, die in ihrer Optik an untote Kerzenständer, plasma-artige Geisterlichter erinnern und zum Beispiel bei „33 “GOD”“ zeremoniell erleuchten.

Die Symbolik, die Vernon mit dem dritten Album ersponnen hat, zieht sich an diesem Abend nicht nur durch den Merch-Stand, der allerhand Shirts und Poster mit vorgedruckten und undeutbaren Hieroglyphen anbietet, sondern auch durch die Lichtshow.

Im Hintergrund der mit zwei Saxophonen und drei weiter Instrumenten bestückten Band leuchten Symbole auf und verschwimmen ineinander. Ähnlich die Setlist, die trotz der scheinbaren Heterogenität der drei Alben Bon Ivers erstaunlich pausenlos erscheint.

Eine große Pause gibt es dann doch noch. In der Mitte des Sets werden die Zuschauer gebeten, sich 22 Minuten zu gedulden. Da hat es die Symbolik sogar in die Pinkelpause geschafft, in der sich im Publikum reichlich darüber ausgetauscht wird, was denn noch fehle. Klar, einige Songs vom häufig stiefmütterlich behandelten Zweitling „Bon Iver“ dürften’s noch sein, ein bisschen vom neuen und zum Abschluss bitte „Skinny Love“, wenn man nach den tuschelnden Menschen im Publikum geht.

Recht behält jeder, der diese Annahme macht. Auf „Minnesota, WI“ folgt in der zweiten Hälfte noch das kontemplative „00000 Million“ und zum Abschluss „Skinny Love“, das von der gesamten Halle angestimmt und beendet wird.

Vernon scheint glücklich, sonst eigentlich auch jeder. Manche, weil sie heute zum ersten Mal die Musik live hörten, die ihnen durch schwere Zeiten half, manche, weil sie ihren Hipster-Freund*innen doch ganz dankbar dafür sind, dass sie mit hierhin geschleppt wurden und wiederum andere, weil der eine Song, den sie kannten doch noch lief.

Viel zu sagen und bereden bleibt nicht, als die stille Masse sich aus der Halle bewegt und sich die Wege trennen. In manchen Gesichtern meint man zu erkennen, dass sich die Erinnerung an dieses Konzert nicht parallel mit dem Kalender von der gegenwärtigen Wahrnehmung entfernen wird, sondern seinen Platz in irgendeiner Ecke des Gehirns gefunden hat, wo sich niemand mit Ordnung und Chronologie beschäftigt. „Where the days have no numbers“, oder so.

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