Poliça, eine latent düstere, sehr spannende und immer politische Alternative-Art-Pop Band aus Minneapolis. Geprägt von übermäßiger Autotune-Verfremdung der Stimme von Sängerin Channy Leaneagh. Zwei perfekt zusammenarbeitende Schlagzeuger, ein Bass und intensive Synth-Teppiche machen den Rest. Gitarre bleibt außen vor. Die ersten beiden Alben extremer und ungewöhnlich mitziehend, intensiv. Die letzte Platte „United Crushers“ immer noch gut, aber gewöhnlicher im Vergleich.

Das haben Poliça aufgelöst durch eine Kollaboration mit stargaze. Ein Berliner Kollektiv mit wechselnden Musikern. Handwerkliches Können vereint sich mit Experimentierfreudigkeit jenseits aller Genre-Grenzen. Mit vielen spannenden Namen haben sie schon gearbeitet. Von Sonic Youth über Julia Holter, These New Puritans bis Anna Calvi.

Music For The Long Emergency“, das gemeinsame Machwerk der ungleichen Truppen, ist eine der interessantesten und ungewöhnlichsten Veröffentlichungen des Jahres. Das transportieren sie jetzt gemeinsam auf die Bühne. Und zwar auf keine geringere als die der Elbphilharmonie, dem neuen Wahrzeichen Hamburgs. Schön zu sehen, dass die vollmundige Versprechung, nicht nur das übliche klassische Publikum zu befriedigen, weiter eingehalten wird.

Das klassische Publikum ist aber auch da. Wie oft in der Elphi eine bunte Mischung. Sonic Youth T-Shirt neben Gehhilfe, Strickpulli neben Luxusklamotte. Bei der Raum-Akustik für elektronische Musik hat man wohl dazu gelernt. Über ein Drittel der berühmten Akustik-Panele ist durch eine Art Leinwände abgehängt. Merkt man dem Raum schon beim Betreten an, die typischen Alltagsgeräusche viel gedämpfter als normal.

Rechts zwei Drumkits, mittig ein MacBook und links ein Podest mit einer Vielzahl von Micros. Erstaunlich viele Lautsprecher, rundum den ganzen Raum bestrahlend.

Die zwölf kommen beschwingt auf die Bühne, Desigual meets Alternativ-Outfit. Eine gewisse Ehrfurcht deutlich zu spüren. Dramatisch beginnen die Bläser, geführt vom Waldhorn. Das Cello vertikal gestrichen erzeugt eher Geräusche denn gewohnten Klang.

Channy’s Stimme steigt etwas stark ein, überfüllt den Raum, überlagert den Rest. Das Titelstück „Music For The Long Emergency“. Filigran treibend bauen die Musiker ein großes Klanggebilde in den Raum. Die Musik ein dichter Teppich. Angenehm unharmonisch fiependes Ausklingen der Streicher deutet an, wo der Abend hinführen wird. In eine komplexe Klangwelt, die nicht immer einschmeicheln will.

Gezupfte Streicher, arrhythmische, trockene Mini-Percussion, pointierter Einstieg. „Berlin“ klingt nicht nur stärker nach Poliça, ist auch von ihrer aktuellen Platte „United Crushers“. Stimme passt jetzt, Effekte so stark wie das Echo. Hallt in jeder Gesangspause endlos nach. Treibende elektronische Beats vervollständigen die Percussion. Die Streicher steigen intensiv ein, keine Spur vom theatralischen Minimalismus.

Mangels Dirigent ist Blickkontakt alles. Das gemeinsame Spiel läuft organisch, als gäbe es gar nichts anderes auf der Welt. „Marrow“ die Climax der Intensität. Die immens treibenden Beats und der Gesang sind das einzig Bekannte. Darunter bauen sie sukzessive alle Instrumente auf. Von Horn und Oboe über Querflöte zu Geige, Bratsche und Cello.

Dazu das Repertoire von Poliça. Alles zum Maximum ausgereizt. Intensiv harmonische Kakafonie zieht in den Bann. Ordentlich aufgeräumtes musikalisches Chaos mit Tiefe ohne Beschreibung. Bei den Beats gibt es kein Entrinnen mehr. Nicht für das Publikum, nicht für die Musiker.

Die Stimmung hält bis zum Ende. Die Damen tanzen sogar vertieft zu einzelnen, punktuell in den Raum gestellten Tönen beim Intro. Die Musik ist im Kopf. Der Spaß an der eigenen Schöpfung unverkennbar.

Channy ist etwas angespannter. „This place is amazing. Too big for me, I feel very uncomfortable. Do you feel comfortable?“. Die Antwort lässt keine Fragen offen. Ja. Definitiv. Auch sie fängt irgendwann an, dezent, aber entspannter, zu tanzen.

Nicht alle Stücke sind schon veröffentlicht. Die meisten von der gemeinsamen Platte, Berlin von Poliça adaptiert und eine Handvoll unveröffentlichte. Manche Stücke spielen förmlich mit der Bühne. Mit Drumsticks klackend lässt Romain Bly sein Horn im Stich, erkundet die Dimensionen des Raums akustisch. Um ihn dann gemeinsam mit den andern sukzessive wieder komplett mit Klang anzufüllen.

Mit „Speaking Of Ghost“ geht es dann ohne Pause zu Ende. Konzentration hat die Zeit förmlich aufgesaugt. Fröhlicher Abgang, Verbeugung in alle Richtungen und sofort wieder zurück auf die Bühne. Vor guter Laune mehr hüpfend als gehend.

Ein nagelneuer Track, in den letzten Tagen erst geschrieben. Die Stimme anfänglich fast ohne Effekt, war das Absicht? Der Titel „116 BPM“ trifft es auf den Kopf. Extrem schnelle, arrhythmische Percussion gibt zum Abschluß nochmal ordentlich Schwung. stargaze tanzt, Headbangen mit Geige.

Wo die Platte einzelne Instrumente schmeichlerisch harmonisch auflöst, da fordern sie live mit hochkomplexer Dichte und Experimentierfreude. Um es mit einem Plattentitel zu sagen „Easy Listening For The Hard Of Hearing“. Oder auch einfach „Großartig“.

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