Da trifft man sich am Abend noch zum gemütlichen Pre-Listening, saugt die Tracks, auf die man im guten Gewissen, dass man jedenfalls schon einmal reinhören durfte, gern noch gute drei Wochen wartet, förmlich auf – und dann?
Dann kommt Justin Vernon um die Ecke, lädt unangekündigt alle Tracks auf den einschlägigen Streaming-Plattformen hoch und macht den Donnerstag zum Freitag.
„i,i“ heißt das neue und vierte Album des wandelbaren und ehemaligen Folk-Projekts Bon Iver. Folk ist’s schon lang nicht mehr, viel mehr Kreativbecken für die Ergüsse Justin Vernons. Tracks ohne Instrumentation? Saxophon mit Vocoder? Alles schon da gewesen, was gibt’s also Neues?
Beim ersten Hören wirkt „i,i“ ein wenig wie ein aufgeräumtes „22, A Million“. Wo okkulte Symbole, Glitch-Sounds und gepitchte Vocals noch den eklektischen Vorgänger bestimmten, klingt bei „Hey, Ma“ und „U (Man Like)“ alles etwas klarer.
Dass „22, A Million“ das Ergebnis eines zähen, frustrierenden Prozesses der Sinnsuche gewesen sein soll, lässt nur einmal mehr vermuten, dass mit „i,i“ alles etwas planmäßiger ablief.
Besonders zu Beginn findet „i,i“ dann sogar einen Ausweg aus dem so gewohnten, verdichtenden Aufbau bisheriger Bon-Iver-Tracks. „iMi“ klingt so, wie man sich ein DJ-Set von Justin Vernon vorstellen würde, ein wahnhaft beruhigender Sample-Haufen, an den das gedämpfte „We“ nahtlos anschließt.
Dem gegenüber stehen mit „Naeem“, „Jelmore“, „Salem“ und „Faith“ genügend Tracks, die so sehr nach Bon Iver klingen, dass der Überblick darüber, auf welchem Album man sich grad eigentlich befindet, beinahe verlorengeht.
Die jetzt schon fulminanten Live-Auftritte dürften dank dieser neuen Tracks noch eindringlicher und opulenter werden. Klar, das Saxophon darf natürlich nicht fehlen und auch die ikonische Kopfstimme des US-Amerikaners meldet sich zwischendurch, aber sonst?
Sonst ist „i,i“ der gelungene Versuch, den Ideen von „22, A Million“ eine größere Bühne zu geben, das konsequente Weiterdenken einer Idee, die 2008 mit dem Album „For Emma, Forever Ago“ angedacht, 2011 mit „Bon Iver, Bon Iver“ für die großen Bühnen aufbereitet und in den letzten fünf Jahren derartig individualisiert und konzeptualisiert wurde, dass die Eigendynamik dieses Projekts unaufhaltbar scheint.