Manege frei! Mit Paradetrommel und bunten Jahrmarktklängen beginnen black midi ihre Vorstellung „Hellfire“. Der wahnwitzige Sprechgesang von Geordie Greep setzt im titelgebenden Opener gleich den Ton für das dritte Album, dessen Stücke direkt nach Veröffentlichung von „Cavalcade“ vor gut einem Jahr entstanden sind. In aller Abgeschiedenheit der Pandemie, wie es heißt.

Viel Zeit zum Nachdenken also. Auf der Türschwelle zum Jenseits wird in den ersten prall gefüllten anderthalb Minuten gleich die Vergänglichkeit des Seins seziert und die Nutzlosigkeit von so manchem Ding beklagt („When stiff useless, when needed limp, rid me of the hideous thing“).

Am Ende steht eine Einladung; wir sind gebeten, die durchgeknallte Welt von black midi zu betreten. Lassen wir uns also ein auf ein überbordendes Album. Genre-Grenzen sprengend. Fesselnd, einer Achterbahnfahrt gleich. Bisweilen schwindelerregend und immer für eine Wendung gut.

Das ganze avantgardistischen Spektrum mit Zutaten aus Prog-Rock, Speed- und Crooner-Jazz präsentieren black midi in ihrer hyperaktiven Single „Sugar/Tzu“ – eingeläutet durch die reißerischen Worte des Box-MC Hus Ragip: „Ladies and gentlemen, are you ready for the sporting event of the year? Let’s see some thunder!“. Mit diesem Intro wurde bereits das Publikum bei den Live-Shows der aktuellen Tour in Kampfesstimmung versetzt und die Latte direkt hoch gelegt.

Mit solcher Erwartungshaltung spielen die jungen Londoner offenkundig gern: Greeps Stimme legt sich zunächst sanft über verträumte Sopran-Saxophon-Klänge. Entspannung macht sich breit, die Deckung fällt. Rumms! Sun Sugars erste Gerade sitzt. Aus heiterem Himmel sprinten Gitarre, Bass und Bläser in atemberaubendem Tempo um die Wette.

Morgan Simpson malträtiert dazu in bewährter Manier sein Schlagzeug und Greeps Gesang kontrastiert das Speed-Getöse mit lässigem Vibrato. Zwischendurch wird einmal kurz Luft geholt, dann drehen die Bläser durch, ein Schlagzeug-Fill jagt das nächste. Ein Stopp, ein Riff – und schon fliegen wieder die Fäuste. Kann hier bitte jemand mal das Handtuch werfen?

Plötzlich findet der Kampf des Jahrhunderts mit einem Schlag ein jähes Ende. Wow! Was black midi in „Sugar/Tzu“ veranstalten, ist ungeheuerlich. Im Unterschied zu den Liveauftritten, wo gerade an den Drums viel gehobelt wird, aber manches auch daneben geht, sitzt hier jeder Ton punktgenau. Und dennoch wirken die Math-Rock-Eruptionen der Band niemals berechnend. Dafür sind die Londoner zu ungestüm, dafür ist ihre überschäumende Energie zu wenig in konzeptionelle Bahnen lenkbar.

Ein weiteres Highlight folgt direkt mit „Eat Men Eat“, dessen Text Cameron Picton beigesteuert hat, neben Greep und Morgan der Dritte im Bunde. Der Bassist, der in dem Stück auch den Leadgesang übernimmt, spinnt dabei den lyrischen Faden von „Diamond Stuff“ aus dem Vorgängeralbum weiter und entwirft das Drehbuch für eine abenteuerliche Story, die sich um die verhängnisvollen Geschehnisse in einer abgelegenen Bergmine rankt.

Die Lyrics sind kryptischer als das, was uns der Autor dazu verrät. Laut offizieller Mitteilung soll es um unfreiwillig abgezapfte Magensäure, eine eigentümliche Methode der Rotweingewinnung und um einen Fluch gehen, der ewiges Sodbrennen verspricht. Man möchte diesen Wüsten-Thriller gerne von Tarantino in Szene gesetzt sehen.

Den pulsierenden Soundtrack dazu gibt es ja schon auf „Hellfire“: mit trabenden Flamenco-Gitarren, Hand-Clapping und Pictons facettenreicher Stimme, die sich eben noch sanft gibt, um bald darauf in einer sich auftürmenden Welle von Bläsersätzen zu explodieren.

Dass black midi nicht nur laut drauf los stürmen, sondern sich auch dezent zurücknehmen können, illustriert „Still“ auf eindrückliche Weise – der zweite Song, in dem Cameron Picton den Leadgesang übernimmt und mit dem zum ersten Mal etwas Ruhe einkehrt.

Nachdem mit dem vorherigen „Welcome To Hell“ eben noch viele Haken geschlagen wurden und ein Break aufs nächste folgte, gleitet dieses Stück ruhig dahin: statt zackiger Metal-Riffs dominiert die Akustik-Gitarre und Camerons Stimme beschwört den psychedelischen Folk-Rock der Sechziger Jahre herauf. Gezupfte Akkorde und sphärische Synthie-Klänge münden in verträumtem Vogelgezwitscher. Wer hätte das erwartet?

Auch die zweite Albumhälfte lebt von Kontrasten so bunt wie das Albumcover. Irre Tempiwechsel, Stilbrüche und eklektische Bezüge zu Prog-Rock-Bands alten Schlags (King Crimson, Gentle Giant) einerseits, Crooner-Gesang eines Frank Sinatra oder Elemente aus Jazz, Cabaret und Indie-Folk anderseits.

Das siebenminütige Spektakel von „The Race Is About To Begin” steht für diese überbordende Vielfalt Pate. Das Rennen, das sich hier Greeps Schnell-Sprechgesang mit den fliegenden Fingern auf den Griffbrettern und dem temporeichen Schlagzeugspiel von Morgan liefert, ist zwar beeindruckend anzuhören, bei denjenigen aber, die sich nicht zu den Hardcore-Fans der Band zählen, dürfte die Grenze der Aufnahmekapazität bald erreicht sein.

Schießen black midi in ihrem kreativen Rausch also über das Ziel hinaus? Wäre weniger nicht manchmal mehr? Es ist nicht anzunehmen, dass sich im jugendlichen Überschwang einer Band, die mit Anfang 20 bereits so abliefert, Fragen dieser Art überhaupt stellen.

Was sie vielmehr beschäftigt, erfahren wir in „27 Questions“, wo es zum Abschluss noch einmal philosophisch wird. Ist der Wille frei? Gibt es eine universelle Wahrheit? Wird das Gras immer grüner? Die in Summe nur 25 Fragen, sie bleiben offen.

Doch kein Grund für Betroffenheit. Bevor der Vorhang fällt, offenbart sich der Springteufel mit einem letzten ironischen Augenzwinkern: „That’s not quite twenty-seven. But my chest feels awful tight. So thank you for listening. Good night, good night, good night!“

Kein Zweifel: In black midi lebt der Geist von Frank Zappa weiter. Freuen wir uns auf die nächsten 50 Alben.

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