Um zu wissen, wohin man geht, müsse man erst wissen, woher man kommt, sagen die Jungs der englischen Band You Me At Six. Deshalb besinnen sie sich weiterhin auf das, was sie seit jeher gut können. Ihr achtes Studioalbum “Truth Decay” wirft gewohnt großzügig mit theatralischen Emo-Rock-Gesten um sich und hat für jede Stimmungsplaylist die geeignete Hymne parat.
Vier bis fünf Songideen sollen während der Arbeiten an diesem Album täglich entstanden sein. Aufgenommen wurde “Truth Decay” im Black Rock Studio in Santorini gemeinsam mit dem Produzenten Dan Austin, der bereits für die Vorgängeralben “VI” und “SUCKAPUNCH” verantwortlich zeichnen durfte.
Der Opener “Deep Cuts” schneidet sich im Intro in die oberste Hautschicht der 20 Jahre alten Nummer “Can’t Stop” von den Red Hot Chili Peppers und gleitet direkt ins glatt polierte Arena-Rock-Fleisch. Etwas gemächlicher als diese besungene Todessehnsucht ist auch “Traumatic Iconic” für die große Bühne konzipiert und animiert zum Mitsingen.
Währenddessen klingt die Zeile “I’m all the therapy you need” in “:mydopamine:” eher nach einer Drohung als dem neuen Allheilmittel. Statt Glückshormonen verschreibt der Song Baldrian und schmeckt wie Kamillentee. “I hate it when things get complicated” im Songtext liefert demnach die Rechtfertigung für den bekömmlichen Sound.
“No Future? Yeah Right” mit Enter-Shikari-Frontmann Rou Reynolds prescht nach vorn wie eine ausrangierte B-Seite, die es knapp nicht mehr auf eines der letzten Alben von Bring Me The Horizon geschafft hat. Aber hat das irgendjemanden zu kümmern? Mitnichten!
Denn Jesses Maria, wer will hier schon päpstlicher sein als der Papst? Spätestens bei der Huldigung “God Bless The 90’s Kids” in strahlender Pop-Punk-Tunika können wir Millennials nicht mehr unvoreingenommen bleiben. Denn dein ist der Riff und der Bass in Ewigkeit, Amen.
Vom Bettschemel begibt sich die Selbsthilfegruppe direkt in einen Sesselkreis und wippt synchron vor und zurück im düsteren “Breakdown”. Therapeutisch zwischen Unsicherheit, Akzeptanz und Loslassen zeigt sich auch das synthlastige “heartLESS” mit ausgebreiteten Armen: “I know you’re not heartless, your heart was just a mess”.
In detailverliebter Feinarbeit kredenzen You Me At Six auf “Truth Decay” das, was das nostalgiehungrige Herz begehrt. So erinnert die zweite Strophe im wummernden “Ultraviolence” schmerzlich daran, wie sehr man Linkin Park vermisst. Und mit maximalem Instrumenteneinsatz eskaliert auch das emotionale “After Love In The After Hours” in Gedenken an die Nullerjahre.
“Truth Decay” mag vorhersehbarer und kompromissbereiter erscheinen als der Befreiungsschlag “SUCKAPUNCH” aus 2021. Doch in Zeiten, wo Panic! At The Disco längst ihre gewohnten Klanggefilde hinter sich gelassen haben und sich nun ohnehin von der Tanzfläche verziehen, kommt diese Platte wie gerufen.
You Me At Six perfektionieren ihren Mix aus Pop, Rock und Emo und positionieren sich gekonnt zwischen Authentizität und Zielgruppenorientierung.