Auch auf dem neunten Album „Fantasy“ schaffen es die Kompositionen von M83 noch immer, scheinbar nie dagewesene Synthesizerklänge zu erzeugen und in eine völlig neue Welt fernab der Realität zu entführen. Kurz vor Veröffentlichung des Longplayers trafen wir Anthony Gonzalez – das musikalische Genie hinter M83 – zum Interview und sprachen über Social Media, Eskapismus und warum er sich auch nach über 20 Jahre in der Branche noch wie ein neuer Künstler fühlt.
MusikBlog: Hi Anthony! Wie fühlt es sich an, nach so vielen Jahren Pause wieder ein Album zu veröffentlichen?
Anthony Gonzalez: Es sind gemischte Gefühle. „Junk“ ist schon sieben Jahre her, und die Musikbranche hat sich in den letzten Jahren komplett verändert. Es fühlt sich an, als wäre ich ein brandneuer Künstler, weil die Menge an Veröffentlichungen jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr so riesig und unaufhaltsam ist, dass selbst jemand mit einer 20-jährigen Karriere wie ich, jedes Mal, wenn er ein Album veröffentlicht, fast bei Null anfangen muss.
MusikBlog: Welche Emotionen sollen deine Hörer*innen denn von „Fantasy“ mitnehmen?
Anthony Gonzalez: Vor allem möchte ich, dass sie sich lebendig fühlen. Das klingt vielleicht ein bisschen prätentiös, aber ich glaube, darum geht es in der Musik.
MusikBlog: Machst du deswegen Musik, die der Realität entflieht? Um eine neue Welt zu bieten, in der nicht alles so schnell passiert?
Anthony Gonzalez: Für mich ist das ein notwendiger Schritt. Ich denke, dass es wichtig ist, den Zuhörer*innen eine Interpretation von ihrer eigenen Welt zu geben. Heutzutage neigen wir dazu, jede Seite von uns in den sozialen Medien zu zeigen und Fans wollen an jedem Detail deines täglichen Lebens teilhaben. Aber das ist etwas, das ich komplett verberge. Ich denke, es ist wichtig, dass Künstler*innen einen Teil ihres Geheimnisses bewahren. Es ist wirklich entscheidend für mich, für eine Weile fast zu verschwinden und dann wieder aufzutauchen, mit diesen Vorschlägen von Welten, die es zu erforschen gilt, und Identitäten, die vielleicht nicht mit dem wirklichen Leben verbunden sind.
MusikBlog: Was stört dich so sehr an den sozialen Medien?
Anthony Gonzalez: Von dir wird heutzutage nicht nur verlangt, ein großartiger Künstler zu sein, der gute Musik macht, sondern auch, dass du das Spiel der sozialen Medien spielst und TikTok-Videos machst. Wo ist heutzutage der Platz eines Künstlers? Ich kenne so viele großartige Musiker*innen, die nur ein paar hundert Hörer*innen auf Spotify haben und sich abmühen, weil sie nicht bei einem Label unter Vertrag genommen werden können, weil sie nicht genug Follower haben. Und wenn man nicht irgendwo anfängt, woher soll man dann diese Follower bekommen? In der Musik geht es um Geheimnisse und Seele. Damals war es mir egal, ob Billy Corgan von den Smashing Pumpkins Selfies in seiner Küche macht und seinem Publikum zeigt, was es zum Abendessen gibt.
MusikBlog: Bleiben wir also beim Wichtigen – der Musik. Bei dem Sound auf „Fantasy“ hat man das Gefühl, dass ganz viel alleine durch Töne erzählt wird und du gar keine Worte brauchst, um zu deinen Hörer*innen zu sprechen. Würdest du sagen, es gibt so etwas, eine „Sprache der Musik“?
Anthony Gonzalez: Das ist wahrscheinlich die einzige Sprache, die ich sprechen kann. Ich bin ein sehr schüchterner Mensch und mag es nicht, in der Gesellschaft zu glänzen, aber hinter meinen Synthesizern oder meiner Gitarre fühle ich mich wie ein ganz anderer Mensch. Da fühle ich mich gut und unaufhaltsam. Die Musik erlaubt es mir, zu schreien und die Dinge zu sagen, die ich sonst nicht sagen kann. Es ist also fast so, als hätte sie mir eine Stimme gegeben. Sie gibt mir die Kraft, über mich selbst zu sprechen, aber auf andere Art und Weise. Auf eine verträumtere und fantasievollere Art und Weise.
MusikBlog: Und wo hast du diese Sprache gelernt?
Anthony Gonzalez: Ich glaube, das kommt aus meiner Kindheit und meinen Teenagerjahren. Ich habe viele Zeichentrickfilme gesehen, japanische Animes in den 80er-Jahren und viele Fernsehsendungen aus den 70er- und 80er-Jahren, in denen alles der Fantasie eines Schöpfers entsprungen ist, all diese vergessenen Länder und Charaktere, die einfach aus dem Kopf von jemandem kommen. Und so ist es auch mit der Musik. Wenn man in jungen Jahren Jean-Michel Jarre hört und auch die ganze deutsche Bewegung der 70er-Jahre, das ist alles Musik, die die Seele anspricht und dafür braucht man nicht unbedingt Worte.
MusikBlog: Trotzdem muss man auch erwähnen, dass du auch stimmlich auf „Fantasy“ präsenter bist als gewohnt. Wie kommt es dazu?
Anthony Gonzalez: Für mich fängt es damit an, dass ich meine Stimme als Instrument akzeptiere. Denn meine Stimme ist einzigartig, ob ich sie nun mag oder nicht. Auf „Junk“ hatte ich viele Gäste auf dem Album und es war weniger persönlich. Aber die Tatsache zu akzeptieren, dass meine Stimme einzigartig ist, ist wirklich ein Schritt nach vorne, mich selbst mehr zu akzeptieren, fast eine Therapie.
MusikBlog: Aber ich vermute, dein Lieblingsinstrument bleibt immer noch der Synthesizer, oder? Was fasziniert dich so sehr an dem Instrument?
Anthony Gonzalez: Er erzeugt Klänge, die von woanders herkommen und die Möglichkeiten sind endlos. Das ist es, was ich an diesem Instrument mag. Es lässt in gewisser Weise deine Fantasie sprechen. Ich könnte Tage damit verbringen, Sounds zu programmieren, weil es faszinierend ist, wie eine Maschine einem Emotionen geben kann.
MusikBlog: Wir sprechen ja gerade über dein neuntes Album. Wenn du mal an die blutigen Anfänge zurückdenkst – wie gehst du deine Arbeit mittlerweile an im Vergleich zu früher?
Anthony Gonzalez: Ich meine, ich bin jetzt 42 und die Sache mit der Musik ist irgendwie hängen geblieben. Ich habe das Gefühl, dass ich mit „Hurry Up, We’re Dreaming“ einen sehr großen Erfolg hatte, der sich in gewisser Weise lange Zeit negativ auf mich selbst ausgewirkt hat. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass es mir fast mehr Freiheit gibt, das zu schaffen, was ich für zukünftige Veröffentlichungen möchte, und ich fühle mich gesegnet, dass ich so eine nette Fangemeinde habe und in der Lage bin, die Alben zu schaffen, die ich schaffen möchte. Das ist heutzutage wirklich ein Geschenk. „Fantasy“ markiert wahrscheinlich das erste Kapitel meiner restlichen Karriere. Ich gründe jetzt mein eigenes Label und möchte auch die Arbeit anderer Leute fördern. Ich möchte wirklich Musik machen, Musik kreieren, Musik fördern und durch Musik sprechen. Das ist das Einzige, was ich tun möchte.
MusikBlog: „Fantasy“ veröffentlichst du ja bereits auf deinem neuen Label Other Suns. Warum war eigentlich genau jetzt der Zeitpunkt für dich, ein Label zu gründen?
Anthony Gonzalez: Ich möchte ein Label haben, das eher altmodisch ist. Ich möchte einfach gute Kunst schaffen und darüber kommunizieren, aber nur aus Liebe zur Musik, wirklich. Und es ist mir egal, ob ein Künstler null Follower auf Instagram hat, ich will einfach Emotionen spüren, wenn ich die Musik höre, denn ich denke, das ist das Wichtigste. Heutzutage verlangen wir von Musiker*innen, dass sie andere Menschen sind, aber ich will, dass sie einfach Musiker*innen sind.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.