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Maifeld Derby 2023

„Lasst uns das dreckige Dutzend voll machen“, schreibt Maifeld-Derby-Veranstalter Timo Kumpf seinen Gästen vorab per Mail – offenkundig augenzwinkernd. Denn die inzwischen 12. Ausgabe einer der geschmackssichersten Live-Veranstaltungen der Republik lässt sich mit Vielem etikettieren, aber eher nicht als schmutzig bezeichnen.

Im Gegenteil: Bei der heilen Welt auf dem Gelände des MVV Reitstadions während der Veranstaltung, kommt einem vielmehr das Postulat der Hamburger-Schule-Veteranen Tocotronic in den Sinn, die zwar nicht auf dem Programm stehen, mit den Gedanken zu „Wie wir leben wollen“ aber in etwa so was wie dieses Festival im Kopf gehabt haben müssen.

Denn so divers das erlesene Programm, so divers auch das Publikum. Und das macht die drei Tage eben nicht nur zu einem kulturellen Zungenschnalzer, sondern erneut auch zu einem beispiellos harmonischen, womöglich gar zum entspanntesten Festival-Besuch überhaupt.

Selbst dann, wenn der Metal-Core Vierer Zulu aus Los Angeles mal eben in etwas mehr als 20 Minuten das Hüttenzelt zerlegt. Oder die Death Crips im Palastzelt mit energetischem Digital Hardcore zum heimlichen Headliner des Freitags mutieren.

Freilich bedingt dadurch, dass Bat For Lashes die an sie gerichteten, turmhohen Erwartungen nicht ganz erfüllen kann. Im Brautkleid überzeugt Natasha Khan zwar mit ihrer unnachahmlichen Stimme, obwohl sie den Frosch im Hals über die gesamte Konzertdauer nicht losbekommt. Sie stolpert aber über zu viele Samples, die ihre theatralische Performance nicht wettmachen.

Auch den hochgehandelten Warpaint unterläuft auf der Open-Air Bühne ein Auftritt der eher lustloseren Sorte. Vor knapp zehn Jahren waren sie schon einmal hier – und deutlich überzeugender. Es sind beides kleine Wehrmutstropfen, die andere Acts mühelos auffangen.

Die Indie-Rocker Surf Curse und ihr singender Schlagzeuger etwa, die mit Dinosaur-Jr.-Shirt und einer Portion Slacker-Tum die sommerlichen Temperaturen zu bedienen wissen. Ein Gefühl von Freiheit bläst über den staubigen Untergrund – ganz gleich, ob man währenddessen an den überwiegend veganen, hervorragenden Essenständen Schlange steht oder mit Aperol in die tanzende Menge strömt. Wen es stattdessen zur japanischen Show von Mitsune zieht, sieht eine der ausgefallensten des Wochenendes.

Apropos Schlangen: Gute Organisation ist, wenn sich diese in Grenzen halten und auf den kurzen Wegen zwischen den Bühnen keinerlei Gedränge entsteht. Das ermöglicht dem Publikum problemlos, sowohl bei Kerala Dust als auch der schwedischen Solokünstlerin Fagelle vorbeizuschauen, die auf dem Parcours D’Anmour ihre Gitarre auch mal mit einem Geigenstab malträtiert.

Es erlaubt, sowohl beim einstigen Sizarr-Frontmann Jungstötter als auch bei M83 aufzuschlagen. Die Franzosen sind mit elektrifiziertem Dream-Pop und Synth-Kaskaden zusammen mit dem britischen Rapper Loyle Carner die großen Überraschungen des Festivals.

Spätestens hier ist klar, dass das zeitgleich stattfinden Festival-Dickschiff Southside, zwei Autostunden südlich von Mannheim, nur noch auf dem Papier eine Konkurrenz darstellt. In Sachen Vielfältigkeit kann es sowieso nicht mithalten, da reicht ein Blick auf die Nationalitäten der Künstler*innen.

Die Iranerin Sevdaliza, die aus Teheran nach Rotterdam geflohen ist, verarbeitet ihrer Geschichte mit sensationellem TripHop und R&B und rundet das wohl internationalste Line-Up der Festivalgeschichte ab.

Vor dem leicht unterkühlten, musikalisch grundsoliden Schlusspunkt von Interpol, bei dem Sänger Paul Banks mit zurückgegelten Haaren und Sonnenbrille eine Distanz wahrt, die nicht recht ins Bild passen will, haben Tamino zuvor umso treffsicherer gepunktet:

Die Band um den ägyptisch-belgischen Songwriter verbindet alles, was man an diesem Festival so liebt. Eine überbordende Musikalität, extremes Feingefühl, eine grandiose Stimme und Melancholie, die sich auflösen lässt. 2018 war Tamino noch auf dem Parcours D’Amour, jetzt gibt er den Schlusspunkt auf der Open Air Bühne, bei dem auch die Mitglieder von M83 beseelt lauschen, als müsste noch irgendwas die einzigartige Atmosphäre dieses Festivals bestätigen.

Wenn es also mal wieder um die Frage geht, wie wir leben wollen, dann lautet die Antwort: So, wie auf dem Maifeld Derby.

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