Einige werden mit Everything But The Girl in erster Linie mit dem (zugegebenermaßen großartigen) Klassiker “Missing” des Albums “Amplified Heart” (1994) im Remix des New Yorker DJ und Produzenten Todd Terry assoziieren. Das englische Duo, welches zu jener Zeit längst fest in der britischen Indie-Szene verankert war, machte dieser Song über Nacht weltberühmt und prägte die Dekade der 90er maßgeblich mit.
Das nachfolgende, neunte Album “Walking Wounded” (1996) und der vorläufig letzte, gemeinsame Longplayer “Temperamental” (1999) waren in Folge von Drum And Bass, Techno, Trip-Hop und House beeinflusst. Und doch besticht ihr umfangreicher Katalog an Veröffentlichungen durch weitaus mehr. Everything But The Girl bewegten sich zuvor umtriebig durch zahlreiche Genres wie Bossa Nova, Rock, Jazz, New Wave und Soul.
2000 legten Tracey Thorn und Ben Watt Everything But The Girl vorläufig auf Eis, wenig optimistisch, jemals wieder gemeinsam Musik zu machen. Stattdessen verfolgten sie eigene Projekte und veröffentlichten mehrere Solo-Alben – bis sich 2022 ihre künstlerischen und beruflichen Wege wieder zu kreuzen begannen. Der Titel “Fuse” ihres ersten Albums seit 24 Jahren bezeugt diese Verschmelzung.
Aktuell sind in die Jahre gekommenen Sounds der Jahrtausendwende wieder en vogue, darum treffen Everything But The Girl mit “Fuse” und ihrem nostalgischen Klang auch den Nerv der Zeit. Im Gegensatz zu vielen anderen wirken sie damit authentisch.
Die erste Vorab-Single “Nothing Left To Lose” als Opener vereint alles, was das neue alte Klangbild ausmacht. Über die filigranen und zugleich spannungsgeladenen Synths legt sich die unverkennbare Stimme von Tracey Thorn, die ein romantisch-dystopisches Bild zeichnet: “Kiss me while the world decays, kiss me while the music plays”.
Improvisierte Dreiklangzerlegungen am Klavier, die Ben Watt am iPhone aufgenommen hat, münden als geisterhafte Loops in “When You Mess Up” und thematisieren das ewige Scheitern und die Selbstkasteiung: “And I hate people who give me advice” Zurecht, denn Everything But The Girl muss man nicht mehr beibringen, wie’s geht.
Eine ähnliche Klavierbegleitung durchdringt auch “Interior Space” mit bis zur Unkenntlichkeit entfremdetem Gesang. Verdichtet durch eine Feldaufnahme des Druidstone Strandes in Wales entsteht hier eine besonders unheilvolle und verletzliche Atmosphäre.
“No One Knows We’re Dancing” fährt mit eingängigen Hooks und offenem Verdeck die Straße an der Strandpromenade mit Palmen entlang. “Forever” lädt zum Tanzen auf ihren weichen Klangteppichen ein – nachts in der Küche zwischen Wehmut, Hoffnung und dem schmutzigen Geschirr von gestern: “Give me something I can hold on to forever”.
“Lost” handelt vom Verlust von Tracey Thorns Mutter. Die willkürliche Aneinanderreihung von Banalitäten und Existenziellem veranschaulicht, was Trauer und Schmerz bedeuten kann, nämlich die unumgängliche Auseinandersetzung mit der Welt, die sich weiterdreht.
Everything But The Girl vereinen mit ihren schillernden Synth-Sounds und klopfenden Beats das Zeitgemäße mit dem Zeitlosen. Nie wirklich vergessen, aber lange nicht mehr daran gedacht, gelingt ihnen mit “Fuse” eines dieser Comebacks, mit denen kaum jemand gerechnet hat, aber worauf alle gewartet haben.