Die Flucht nach vorne ist manchmal der einzige Ausweg aus dem Verderben. Und so stürzen sich Creep Show auf ihrem Zweitling “Yawning Abyss” mit neonfarbener Schwarzmalerei geradewegs in die Apokalypse. Diese bizarre Achterbahnfahrt zwischen Surrealismus und Funk gerät noch düsterer als auf ihrem Debütalbum “Mr. Dynamite” aus 2018.
Analoge Synthesizer, gleichermaßen exaltierter wie malträtierter Gesang und dystopische Lyrics erschaffen auf “Yawning Abyss” ein “kosmisches Ereignis, das man vom Dachbodenfenster aus bestaunen kann, wenn man sich auf einen Stuhl stellt”, sagt Sänger Stephen Mallinder.
Mallinders Schaffen als Teil der Band Cabaret Voltaire schlägt sich auch in der schillernden Genrevielfalt dieser Platte nieder. Experimenteller Elektro-Pop und New Wave werden unterfüttert mit Impulsen aus Industrial und Techno. Creep Show, die aus John Grant und den Mitgliedern von Wrangler besteht, verwandeln den namensgebenden gähnenden Abgrund in einen Gipfel der Ekstase.
Bis zur ersten Strophe im Opener “The Bellows” klingt es, als würden Kraftwerk die Titelmusik von “Knight Rider” covern. Über wabernde Synth-Peristaltik legen sich moskitoartige Melodien. Im Kontrast dazu wirkt das folgende „Moneyback“ gleich noch eine Spur alarmierender und diabolischer.
Ebenso direkt infiltriert das beat-orientierte und reizüberflutete “Yahtzee!” das Gehirn. Der Würfelbecher entpuppt sich als säurehaltiges Kaleidoskop aus staccatoartigen Rhythmen und übertriebenen Sprachmelodien.
Die wörtlich übersetzte Vormittagsveranstaltung wird in “Matinee” zu einem progressiven Ritualtanz um Mitternacht. Der sirenenartigen Hookline kann man nur schwer widerstehen.
Unterdessen schwingt im Titeltrack “Yawning Abyss” ein metallisch-glänzender Roboter, der “George Michael 4000” heißen könnte, seine Hüften. Cool und kokett schält sich im gespenstigen “Steak Diane” eine einlullende Monotonie heraus, die ebenso belebt.
Mit deutlich weniger Groove, aber dennoch tanzwütig gibt sich der Teufel höchstpersönlich im reduzierten “Wise” die Ehre: “The world is not eternal, the devil in the detail” Mehr noch, auf dem Album ist er allgegenwärtig und das ist nahezu himmlisch.
Als einziger Ruhepol auf “Yawning Abyss” hypnotisiert “Bungalow” mit warmen Klängen, die an Balladen von Depeche Mode erinnern, und ätherischen Lyrics: “Streamlined silhouette, traces of cologne and smoke” Auf einem Nebelteppich tanzt man mit dem eigenen Trugbild bei Vollmond Rumba, während sich eine Harfenspielerin in wallenden Kleidern im Schatten der Bäume versteckt.
Creep Show laden auf “Yawning Abyss” erneut zum (Alb-)Träumen ein. Doch solange Abgründe so fürchterlich farbenfroh und so gnadenlos geistreich sind, ist alles halb so wild.