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Das hält mir mein unverdientes Glück vor Augen – Bernd Begemann im Interview

Gut 20 Platten in fast 40 Jahren, Gründungsikone der Hamburger Schule, Inspiration für zahllose kommerziell erfolgreichere Bands: Bernd Begemann ist der unbekannteste Weltstar der deutschen Popmusik und dennoch ein Rätsel. Mit seinem Begleittrio Die Befreiung bringt das 61-jährige Waisenkind heute sein Album „Milieu“ heraus. Ein küchenphilosopisch funkensprühendes Interview.

MusikBlog: Bernd, wer bitteschön ist Patrizia Dembrovski, der du auf deiner neuen Platte Milieu ein ganzes Lied widmest?

Bernd Begemann: Niemand, der Name ist erfunden. Ich bin komplett antiesoterisch, glaube aber, dass Namen eine Auswirkung auf den Charakter haben. Und bei einer Patrizia Dembrovski stelle ich mir vor, dass sie Ärger macht, wenn es nicht sein muss.

MusikBlog: Wegen Patrizia oder Dembrovski?

Bernd Begemann: Patrizia klingt nach Eltern, die viel mit ihrem Kind vorhatten, wozu der Nachname aber nicht passt, weshalb sie ihr Leben lang leicht sauer war und jetzt mir als Sänger Probleme bereitet.

MusikBlog: Und was haben „Bernd“ und „Begemann“ aus dir als Mensch gemacht?

Bernd Begemann: Nichts Besonderes. Aber dadurch, dass Bernds über 40 sind, also aus einem anderen Zeitalter, existiere ich in der aktuellen Pop-Gegenwart nicht mehr. Trotzdem werde ich mir keinen Künstlernamen mehr zulegen.

MusikBlog: Zumal die sanfte Alliteration auf B schon künstlich klingt, wie Bernhard Brink.

Bernd Begemann: Aber eher so ein Bauernkünstler. Ähnlich wie Jan übrigens. Dabei denke ich an jemandem mit Kombi, den jeder anhauen kann, wenn man was vom Baumarkt braucht. Als Jan und Bernd gäben wir ein prima volkstümliches Schlagerduo ab.

MusikBlog: Heißen die Baumarkt-Jungs nicht eher Holger oder Jochen?

Bernd Begemann: Ich sehe schon – meine Namenswissenschaft ist nicht fehlerlos. (lacht)

MusikBlog: Nehmen wir den nächsten Namen auf der Platte: “Sophia Thiel”.

Bernd Begemann: Die gibt’s wirklich! Ich sehe gern fern, habe einen Bildschirm mit 77-Zoll-Diagonale und 100.000 Programmen, die ich manchmal durchzappe. Und einmal bin ich dabei auf einen Konsumkanal gestoßen, der nicht “Kauf dies” oder “Happy das” heißt, sondern “Sophia Thiel”, die rund um die Uhr Workouts macht, gut aussieht, gesund kocht oder mit anderen Coaches oder alleine Menschen coacht und dabei immer positiv wirkt.

MusikBlog: Oh Gott!

Bernd Begemann: Wer dabei allerdings in ihre Augen sah, der spürte, wie kurz sie vorm Zusammenbruch stand. Und siehe da: Vier Monate später zog sie sich mit einem Burnout zurück. Angesichts all der ausgebrannten Influencer, die 24 Stunden gut gelaunt und topfit geliefert haben, war da mein erster Gedanke: Man kann einfach nicht immer nur so tun, als ob.

MusikBlog: Hast du selber Menschen in deinem „Milieu“, wie euer neues Album heißt, die so sind, also nur tun als ob?

Bernd Begemann: Bestimmt. Aber sie machen es so gut, dass ich es nicht merke. Im schönen Lied „The only time I’m really me“ singt Tammy Wynette, für die Nachbarn ist sie diejenige, die immer Wäsche aufhängt, für die Bank ist sie diejenige, die ständig das Konto überzieht und so weiter. Für sich aber ist sie diejenige, die nur einmal am Tag sie selbst sei – im Moment zwischen Augenschließen und Einschlafen.

MusikBlog: Deprimierend.

Bernd Begemann: Aber im fluffigen Country-Sound auch ein poetisches Statement über die vielen Gesichter, mit denen wir uns und andere was vormachen. Schlimmer finde ich allerdings Leute, die uns wie “Sophia Thiel” dabei ständig etwas verkaufen wollen. Nahrungsergänzungsmittel, Schönheitsprodukte, Lügen wie im CSU-Konservatismus der Adenauer-Jahre, wo hinter der heilen Welt makelloser Fassaden ebenfalls das Dunkel lauerte.

MusikBlog: Du selbst bist noch in Adenauers Kanzlerschaft zur Welt gekommen. Wie kongruent sind denn deine Außenwirkung und die Persönlichkeit dahinter?

Bernd Begemann: Auch ich habe eine Art Benutzeroberfläche, die auf der Bühne zum Vorschein kommt und alle umarmt. Privat komme ich dagegen auch gut mit mir alleine klar, treffe tagelang niemanden und bin dennoch glücklich oder fühle mich zumindest wohl. Ein glücklicher Asozialer oder um es mit Walt Whitman zu sagen: ich enthalte viel Leiden.

MusikBlog: Aber bei dir sind privater Rückzug und öffentlicher Exzess einfach zwei Komponenten derselben Materie, kein vorgegaukeltes Trugbild zu Verkaufszwecken?

Bernd Begemann: Ying und Yang, innen einatmen, draußen ausatmen. Beides macht mich glücklich.

MusikBlog: Wo bist du als Entertainer denn glücklicher: vor 20.000 Leute in der Arena oder vor 20 im Club?

Bernd Begemann: Je weniger, desto schwieriger. 20.000 hatte ich noch nicht, aber auch vor der Hälfte zu spielen ist einfach, da muss man bloß schlicht bleiben. Zehn misstrauische Leute in Vorarlberg fordern dagegen die volle Aufmerksamkeit. Tougher Gig!

MusikBlog: Wie definierst du da Erfolg?

Bernd Begemann: Einige Rapper halten sich für erfolgreich, weil sie 40 Lamborghinis haben. Ich glaube, damit stopfen sie nur das Loch in ihren kalten Herzen. Ich definiere Erfolg anders. Als Waisenkind aus einem Heim der Sechziger, über das es vermutlich schreckliche Dokus gibt, war ich dank meiner Adoptiveltern mit vier Monaten ein Gewinner. Ich bin daher, auch wenn es nach evangelischem Kirchentag klingt, für jeden Tag dankbar.

MusikBlog: Amen.

Bernd Begemann: Und dabei fällt mir auf, wie viele Leute ihr Leben so organisieren, dass sie es gerade so aushalten und ständig auf der Suche nach Sorgen sind, die ihr Leben beeinträchtigen. Ich bin mir dagegen oft selbst genug. Auch, weil ich mir bewusst bin, 60 der 80 friedlichsten und, wohlhabendsten Jahre unserer Weltregion erlebt zu haben. Deshalb riskieren Leute außerhalb davon ihr Leben, um meine Nachbarn zu sein. Das hält mir mein unverdientes Glück vor Augen, aus dem man aber auch was machen sollte. Freude empfangen, Freude verteilen – sorry, dass ich in Kalendersprüchen rede.

MusikBlog: Hatte dieses Denken nur Einfluss auf dein Leben oder auch die Kunst dazu?

Bernd Begemann: Insofern beides, als es mein Temperament beeinflusst. Weil ich mich zugleich von innen und von außen betrachten kann, schreibe ich als Reporter meines eigenen Lebens besser darüber, ohne ständig Groll zu hegen. Selbst Leuten, die mir Böses wollten, kann ich nicht richtig böse sein.

MusikBlog: Du empfindest generell niemals Wut?

Bernd Begemann: (überlegt lange) Menschen machen gemeine Sachen, aber wenn ich das jetzt länger vertiefe, fordere ich womöglich das Schicksal heraus. Ich bin ja nicht mal auf mich richtig wütend. Nur häufig enttäuscht, nicht besser zu sein, als ich bin.

MusikBlog: Kennst du das Gefühl der Scham für Dinge, die du getan hast oder gewesen bist?

Bernd Begemann: Scham ist unkonstruktiv. Ich habe bestimmt schon Dinge gesagt, die ich heute nicht mehr sagen würde. Aber was man durch Worte vermasselt, kann man auch durch Worte gutmachen.

MusikBlog: Musst du die Worte in „Du wirst dich schämen für deinen Ziegenbart“ von 1996 wieder gutmachen?

Bernd Begemann: Da rede ich ja von der Scham anderer. Und Ziegenbärte sahen schon damals furchtbar aus. Wenn ich darüber nachdenke, was mir jemals peinlich war, hätte ich gern meinen Körper von früher zurück und meine Fähigkeiten von heute früher entwickelt. Es ärgert mich, die ersten 100 Konzerte vermasselt zu haben. Aber ich vergebe mir!

MusikBlog: Sind noch 100 weitere Konzerte im älteren Körper drin oder spürst du den Zahn der Zeit?

Bernd Begemann: Auftreten ist wie Atmen. Ich habe eine Rente plus Zusatzrente und selbst für den Ausnahmefall des vorigen Winters, in dem ich mir den Ellbogen gebrochen hatte und dachte, nie mehr Gitarre spielen zu können, eine Arbeitsausfallversicherung. Aber warum auf Spaß verzichten? Wenn ich unfähig werde, mich auszudrücken, und zu gebrechlich, um die Leute mitzunehmen, wenn sie sich bei den Konzerten Sorgen um mich machen, höre ich vielleicht auf. Vorher nicht.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview

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