Drei Jahre nach der Veröffentlichung seines letzten Studioalbums „Boy From Michigan“ meldet sich der amerikanische Singer/Songwriter John Grant mit einem ganz besonderen Output zurück. Auf seinem sechsten Longplayer vereint John Grant privaten und politischen Zündstoff mit atmosphärischen Klangexperimenten fernab des Mainstreams. Kurz vor dem Erscheinen von „The Art Of The Lie“ trafen wir uns mit dem Sänger zum Interview und sprachen über richtungsweisende Begegnungen und den beschwerlichen Pfad zur Selbstliebe.
MusikBlog: John, dein neues Album „The Art Of The Lie“ steht in den Startlöchern. Kannst du uns kurz mitnehmen in die Zeit, als die Idee und die ersten Gedanken zum Album reiften?
John Grant: Das muss so Anfang 2022 gewesen sein. Ich war damals auf einem Konzert von Grace Jones, wo ich backstage den Produzenten Ivor Guest kennenlernte. Zu der Zeit hatte ich bereits einige neue Texte in der Schublade, aber noch nichts Konkretes. Mit Ivor habe ich dann viel telefoniert. Wir haben dann schnell herausgefunden, dass wir musikalisch nicht nur ähnlich denken, sondern auch auf dieselben Sounds, Künstler und Bands stehen. Irgendwann haben wir uns dann dazu entschieden, ein gemeinsames Album anzugehen. Das war dann auch ein ziemlich spannender Prozess.
MusikBlog: Passiert dir das häufiger, dass du unvermittelt kreative Köpfe kennenlernst, mit denen du dann gemeinsame Sache machst?
John Grant: Das passiert eher selten, aber es kommt hin und wieder vor. In diesem Fall war es ein Geschenk für mich. Das Arbeiten mit Ivor fühlte sich unglaublich natürlich an. Wir waren ganz schnell auf einer Wellenlänge. Wir haben später auch ein paar Wochen während des Produktionsprozesses zusammen bei mir in Reykjavik gewohnt. Tagsüber haben wir an der Musik getüftelt und abends haben wir zusammen mit Robin (Robin Mullarkey spielt auf dem Album Bass) Filme und Serien geschaut. Das war alles sehr locker und freundschaftlich.
MusikBlog: „The Childcatcher“ ist mein Lieblingstrack auf dem Album. Hast du auch einen Song, der dir besonders am Herzen liegt?
John Grant: Der Song „The Childcatcher“ steht auch bei mir ganz oben auf der Liste. Ich liebe diese Soundmischung aus Dead Can Dance und Vangelis. Das sind Klänge, die mich schon mein ganzes Leben lang begleiten. Ich glaube, dass der „Blade-Runner“-Soundtrack ganz tief in mir drinsteckt. (lacht)
MusikBlog: Mir kam zu Ohren, dass du früher auch gerne Nina Hagen gehört hast. Stimmt das?
John Grant: Oh ja, natürlich. Ihre ersten beiden Platten haben mich schwer beeindruckt. Durch ihre Musik habe ich mich in Deutschland verliebt. Ich fand ihren Sound unheimlich inspirierend. Und ich wollte unbedingt wissen und verstehen, worüber sie singt. Also bin ich irgendwann nach Heidelberg und habe dort Deutsch studiert. Die Liebe zum Land und zur Sprache ist ungebrochen. Ich bin gerade wieder dabei, alte Lektüre-Lücken zu schließen. Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Günter Grass: Die haben alle wunderbare Bücher geschrieben.
MusikBlog: Ist die deutsche Sprache schwer zu erlernen?
John Grant: Sie ist nicht einfach. Aber es gibt größere Herausforderungen. Meine größte Sprachhürde bisher war die isländische Sprache. Die ist wirklich sehr, sehr schwer. (lacht)
MusikBlog: Auf dem neuen Album spielt das Thema Lügen eine große Rolle. Fühlst du dich in deinem Leben oft belogen?
John Grant: Absolut. Wir alle werden ganz oft belogen, sei es privat, politisch oder auf irgendeiner anderen Ebene. Ich meine, schau dir nur mein Heimatland an. Die USA spielen sich immer als das große Weltvorbild auf. Was politisch dabei rumkommt, ist aber einfach nur furchtbar und alles andere als vorbildhaft. Ich bin dort aufgewachsen und es gibt viele Menschen dort, die ich kenne und liebe. Aber das Land ist am Boden. Der Nährboden für diesen Untergang sind Lügen.
MusikBlog: Welche Lüge hat dich in deinem Leben am meisten verletzt?
John Grant: Die Lüge, dass ich als schwuler Mensch nichts wert bin. Mir wurde immer vermittelt, dass Schwulsein nicht normal ist. Wer schwul ist, der macht etwas falsch. Meine Eltern haben mir gesagt: Sohn, wir wollen dich lieben, aber so wie du bist können wir dich nicht lieben.
MusikBlog: Das muss ein Albtraum gewesen sein.
John Grant: Ja, das war es wirklich. Es war schrecklich. Der Glaube daran, dass man als schwuler Mensch in der Hölle schmorrt, der war in meinem Umfeld so fest verankert. Ich bin in diesem Umfeld aufgewachsen. Da war nie jemand da, der mir gesagt hat, dass das alles gar nicht stimmt. Das war das Schlimmste daran.
MusikBlog: Wie gehst du heute damit um?
John Grant: Ich habe mich viele Jahre unwürdig gefühlt. Lange Zeit habe ich geglaubt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist und dass ich weniger wert bin als andere Menschen. Mittlerweile bin ich viele Schritte weiter. Aber ich habe auch heute noch an dem Thema zu knabbern. Ich bin dankbar, dass ich Menschen in meinem Umfeld haben, die mir Kraft geben und mich darin bestärken, ich selbst zu sein und mich so zu lieben wie ich bin. Mein Alltag ist jetzt glücklicherweise ein anderer. Ich befinde mich in einem fortlaufenden Prozess. Die Heilung nimmt viel Zeit in Anspruch. Das dauert alles noch ein bisschen. Aber ich denke, dass ich auf einem guten Weg bin.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.