Berühmtheit, innere Dämonen, emotionale Verletzung, die Sehnsucht nach dem Paradies und das Adrenalin beim Kennenlernen einer fremden Person auf der Tanzfläche freitagnachts formen den Stoff, aus dem „MAYHEM“, das neue Album von Lady Gaga ist.
Das letzte reguläre Album „Chromatica“, ist fünf Jahre her. Zwischenzeitlich gab es ein gemeinsames Album mit Tony Bennett und den Jazz-Soundtrack „Harlequin„.
Lady Gaga hat sich eine gewisse Indie-Haltung angeeignet, auch aufgrund ihrer ambivalenten Erfahrungen, musste sie sich in ihrer Karriere doch auch mit Zweiflern auseinander setzen, die sie klein halten wollten.
Die Klangfarben des neuen Albums dienen als bester Beweis. So wie „MAYHEM“ jetzt produziert ist, so stellt man heute keine Pop-Musik her, wenn sie lediglich einen Kotau vor den Marketing-Vorgaben erweisen sollte.
Viel mehr gibt Stefani Germanotta, die Frau, der wir in den Jahren 2008-2009 verdankten, dass die eingeschlagenen Genres Elektro-Pop und Dancefloor wieder hoffähig wurden, uns nun endlich die filigranen Club-Sounds zurück.
Vorbei ist es mit all den zweckmäßigen Plug-In-Tönen, wie sie jahrelange unsere Charts füllten. Damit, dass Tate McRae, der Cyndi-Lauper-Klang-Klon Dua Lipa und die Dresdner Hot-Chocolate-Kopie Purple Disco Machine als das Hochwertigste durchschlüpften, was Charts-Dance zu bieten hatte.
Wie ein perfektes Mixtape lotet „MAYHEM“ die Zwischentöne des Nachtlebens samt verletzter Gefühle, schwermütiger Stimmung, Drang zu Action, plötzlicher Schock-Verliebtheit aus. Die glänzende äußere Schale wird auch besungen („I look so hungry / I look so good“).
Die musikalischen Zutaten für diesen Cocktail der wechselnden Launen reichen von durchaus traurigen Disco-Beats und gekonntem Talkbox-Einsatz im rastlosen „Don’t Call Tonight“ über exzellente Hall-Effekte in „The Beast“ bis zu flächigen Phasen und zappeligem Stakkato in „Shadow Of A Man“.
Gerade diese Mischung macht den Reiz aus. Es gibt keine Passepartout-Vorlage, die sich durch alle Songs schlängeln würde, wie es etwa bei Dua Lipa oder Purple Disco Machine den Anschein hat, sondern individualisiert gestaltete Tracks, die dennoch eine nahtlos durchtanzbare Dreiviertelstunde gestalten.
Manchmal fordert Gagas Produzenten-Crew die Hörer*innen mehr, wenn zum Beispiel das Mental-Health-Stück „Abracadabra“ den Four-to-the-floor mit polyrhythmischen Tischtennis-Beats durchtrennt. An anderer Stelle überwiegt das Harmonische, leicht Zugängliche, Eingängige, wie in „How Bad Do U Want Me“.
Auch Beat-Konstruktionen, die auf der oberflächlichen Ebene simpel erscheinen mögen, erweisen sich bei genauerem Hinhören reich an ausgefeilten Effekten, mit Details und warmen Analog-Tönen gespickt insgesamt als ‚Advanced Disco‘.
In der Mitte der Platte wird es wiederholt funky. So ruft „Killah“ die besten Momente in Janet Jacksons R&B-Karriere in Erinnerung, huldigt Princes Ästhetik der „Sign O‘ The Times“ Phase, insbesondere mit einer verbogen klingenden Bassgitarre. Und von Robbie Williams‚ „Rock DJ“ hat das Lied auch etwas.
Erst recht schmiert „Zombieboy“ Funk-Liebhaber*innen Honig um den Mund. Hinzu kommen Reminiszenzen an die frühen 1980er. Das Outro versprüht ebenso den Charme von Pet Shop Boys und Duran Duran wie das Intro in „LoveDrug“.
Aus dem Rahmen eines DJ-Sets fallen dennoch drei Nummern. „Blade Of Grass“ tut zwar als Kontrast im Rahmen der Dramaturgie gut, wirkt aber als cineastische, lärmende Piano-Ballade mit plakativer Gesangstechnik nicht so wirklich mitreißend – der einzige schwache Track.
„Disease“ zeigt Gaga auf einer Klang-Rezeptur der Marke Garbage, im Stile der 1990er und in einer beinahe schreienden Tonlage. Es ist der Song, der am meisten ‚Alternative‘ auf „MAYHEM“ signalisiert, sogar Industrial-Pop in Gagas Worten, und ist auch lyrisch der schrillste. Viel Text bleibt dabei unter einer dominanten, dunklen Wand aus Lärm und Fülle verborgen.
Das lange, irreführende Schlussstück „Die With A Smile“ ist ein Liebes-Duett mit einem feinen Hauch Northern-Soul, malerischen Worten und Bruno Mars als Gast, hat mit dem restlichen Longplayer aber so gut wie nichts gemeinsam.
Wer solche Vielseitigkeit so rund zusammen führt, verdient eine Verbeugung. Und wer so unterschiedliche Gesangstechniken und Stimmlagen verkörpert, verdient noch eine für die schauspielerische Leistung.
Mal zirpt Lady Gaga wie ein Vogel auf der Balz, dann presst sie wiederum an anderer Stelle, als sei sie gerade mitten in einen Boxkampf verwickelt, trällert im Nahkampf den Tune. Sie röhrt in „The Beast“, als ginge es um Leben und Tod und bei „Zombieboy“ erleben wir sie im Sopran.
„Mayhem“ heißt „Chaos“. In Worten wie „true chaos“ und „inner chaos“ beschrieb Lady Gaga ihre Lied-Inhalte im US Rolling Stone, „chaotic“ nannte sie ihren stilistischen Eklektizismus kürzlich im NME.
Dafür wirkt auf „MAYHEM“ jedoch alles ganz geordnet und sortiert. Langweilig gerät das Album jedoch nicht, dafür floss genug kreatives Chaos ein.