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Kate Tempest – Let Them Eat Chaos

In „Manhattan Transfer“, John Dos Passos‘ früher Markstein der Großstadtliteratur von 1925, ist er angeblich erstmals zum Einsatz gekommen: Der erzählerische Kameraschwenk. Um komplexe urbane Simultanität zu vermitteln, schwenkt die Perspektive wie eine Kamera von einer Wohnung eines New Yorker Apartment Buildings in die nächste, deren Bewohner und ihre Leben einander fremd, und doch, in dieser Perspektive, allverbunden und interdependent.

Diese cineastische Methode, urbanes Leben erzählbar zu machen, zieht sich bis in unsere Postmoderne. Er mag mittlerweile Schauspielern zu Oscars verhelfen, aber alle Plots der frühen Filme Alejandro Gonález Iñárritus waren durchzogen von dieser unmerkbaren Interdependenz, ob bei „Babel“, „21 Gramm“, „Amores Perros“ oder „Biutiful“.

Auf ihrem sensationellen zweiten Album „Let Them Eat Chaos“ bedient sich die Londoner Rapperin und Autorin Kate Tempest genau dieses Mittels. Sieben einander fremde Großstadtprotagonisten, die die gleiche Straße ihr Zuhause nennen, sind aus sieben verschiedenen Gründen um 4.18 Uhr wach und werden am Ende durch einen furiosen Sturm zusammengebracht – allverbunden und interdependent.

In ihrer Summe sind sie die anonyme Stimme der großstädtischen Grundmasse. Keine karrieristischen Überflieger, mit Ausnahme eines finanziell soliden Hipsters vielleicht, sondern die Working Class, die Nightshifter, die Umzieher aufgrund der Mietentwicklung, die einsamen Alten, die sich nichts anmerken lassen, die dich sehen, am Fenster, wenn du am Morgen vom Club nach Hause wankst.

Soziale Gerechtigkeit und unsere heutigen, zum Teil absurden Lebenswirklichkeiten ziehen sich durch Kate Tempests schaffen. Ob mit Anfang Zwanzig in ihren Poetry Slams oder jetzt in ihren Theaterstücken, ihrem Debütroman, ihrem ersten Album vor zwei Jahren, „Everybody Down“.

Den berühmt gewordenen, überlieferten Lösungsansatz der französischen Königin Marie Antoinette, „so mögen sie Kuchen essen“, ob der Hungersnöte ihrer damaligen Landbevölkerung, münzt Tempest Knall auf Fall um: Chaos für den Hedgefonds-Manager, für die politische Edelkaste, für all die Entscheidungsträger, die sich schuldig machen am Zustand dieser Welt. Einen möglichen Soundtrack hierfür liefert sie.

In „Let Them Eat Chaos“ wechseln sich Spoken-Word-Passagen mit Rap-Songs kontinuierlich ab. Der Reintext wird auch in Buchform erscheinen. Tempest hat mit ihrer eindringlichen Lyrik in Ton- und Buchform die Feuilletons längst erreicht.

Doch „Let Them Eat Chaos“ ist nicht allein applauswürdiger Studenten-Rap. Die Botschaft, der Inhalt wird bei Tempest immer politisch sein. Besonders in seiner musikalischen Umsetzung ist „Let Them Eat Chaos“ famos.

Der bewusste Verzicht auf Samples, die kargen Beats, die aus einem Synthesizer kommend, die Geschichten emotional verbinden und zusammenhalten, ihre mitreißende Rap- und Spoken-Word-Performance: in seiner Dringlichkeit, in seiner Wucht, auch in seiner thematischen Schwere erinnert das Album an einen anderen, dem die Welt nicht egal ist, der Hip-Hop macht und in aller Munde ist: Kendrick Lamar.

Sowohl musikalisch als auch erzählerisch hat Kate Tempest enorm zugelegt. Und dass, obwohl bereits ihr Debütalbum, ein Theaterstück und ein Lyrikband mit Preisen bedacht wurden. Der Pfeil zeigt eindeutig in eine Richtung: hands down, album oft the year.

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