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The Julie Ruin – Live im Columbia Theater, Berlin

Prozac macht speziell. Das unter Künstlern und Bühnenmenschen äußerst beliebte US-amerikanische Antidepressivum – weil’s einem hilft, locker fluffig die Bühne der Angst zu betreten – hatte schon CocoRosies Berlin-Auftritt letztes Jahre ins Abklatschartige überführt, sind die Cassady-Schwestern doch überzeugte Prozac-auf-Tour-Schlucker.

Auch die Gallionsfigur des rockenden Feminismus, Riot Grrrl-Legende Kathleen Hanna war gestern bei ihrem Berliner The Julie Ruin-Konzert, wie sie selbst freimütig und selig grinsend zu Protokoll gab, mächtig auf dem Trip dieser als Glückspillen verschrienen recht zweifelhaften Medikation.

Wer die keinen Kampf und keine Diskussionen scheuende Hanna im Verlauf ihrer Karriere von Bikini Kill über Le Tigre zu jetzt The Julie Ruin verfolgt hat, weiß, dass diese toughe Rockerin vor dem Herrn alles andere als ein stilles Wasser ist.

Gepaart mit ordentlich Prozac ergab das Ganze nun einen Abend mit viel Gelaber und relativ wenig rockiger bis punkiger Musik. Diese war zwar unzweifelhaft souverän dargeboten, allen voran von Hannas formidabler Gitarristin Sara Landeau und nicht minder formidabler Bassistin Kathi Wilcox, und zeigte durchaus, dass The Julie Ruin eine wichtige Alternative-Rock-Band sind, dennoch war Musik gestern Abend in Berlin nicht das Wichtigste.

Hannas Redseligkeiten ob des furchtbaren Wahlausgangs in ihrer Heimat determinierten die Stimmung, was beim überwiegend weiblichen, feministischen und lesbischen Publikum erwartungsgemäß tosend aufgenommen wurde.

Ein Deut mehr Konzentration auf die Musik hätte den Anschein auf eine überraschend eindeutige Klischeehaftigkeit einer Szene ablenken können, die jetzt reflexartig Zeter und Mordio schreit, und doch nicht genügend Anti-Trump-Wähler mitmobilisieren konnte.

Freilich trifft dieser Vorwurf Hanna nicht, die massiv für Clinton geworben hatte, aber seit dem 9.120011. frustet gefühlt jeder einzelne US-amerikanische Künstler auf europäischen Bühnen über den neuen mächtigsten Mann der Welt ab und holt sich so europäischen Applaus.

Mag es auch richtig sein, ist mir das irgendwie zu einfach. Eine Rückbesinnung auf das alte Credo „It’s Only Rock’n’Roll, but I like it“ hätte den Abend authentischer rebellieren lassen – und eine echte Hanna, die nicht auf Prozac motzt.

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