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Ich wäre gerne eine Melodie – Sylvan Esso im Interview

Das zweite Album „What Now“ von Sylvan Esso greift bereits im Titel eine Frage auf, die sich jeder schon mal an einem Punkt in seinem Leben gestellt hat: Was nun? Für das Duo aus Durham, North Carolina wurde diese Frage während der dreijährigen Arbeit am Nachfolger von „Sylvan Esso“ zum Mantra, mit dem es die eigenen Erwartungshaltungen nach dem Überraschungserfolg des Debütalbums bekämpfte.

Doch die Indie-Pop-Band erkennt in dieser Frage nicht nur Verzweiflung, sondern auch die Chance auf einen Neuanfang. So handeln die zehn Songs auf „What Now“ nicht nur vom endgültigen Abschied von der Adoleszenz, sondern eben auch vom Anbruch eines neuen und aufregenden Kapitels. Wir sprachen mit Sängerin Amelia Meath und Soundtüftler Nick Sanborn über die mühsame Arbeit am zweiten Album, die Schwierigkeit, ohne Klischees von der Liebe zu singen, und den heimlichen Wunsch des Duos, einen perfekten Radiohit zu schreiben.

MusikBlog: Heute erscheint euer zweites Album, letzte Woche habt ihr aber bereits alle zehn Songs von „What Now“ am Record Store Day in zehn Plattenläden auf der ganzen Welt versteckt. Wieso solch eine Schnitzeljagd?

Nick Sanborn: Wir waren sehr ängstlich, dass das Album vorab im Internet auftaucht. Als das nicht passiert ist, dachten wir, dass wir es ganz einfach selbst leaken könnten.

Amelia Meath: Wir mussten allerdings ein Presswerk finden, das diese zehn Schallplatten sehr kurzfristig pressen konnte, weil uns die Idee erst sehr spät kam.

Nick Sanborn: Deshalb hatten wir auch bis zum Schluss die Sorge, dass am Ende ein Puzzleteil fehlen würde, eine Schallplatte nicht rechtzeitig im Plattenladen ankommt. Ich habe die Hüllen der Platten von Hand bedruckt. Zwei Wochen später ein Bild von einem Kind in Japan zu sehen, das diese Hülle in die Kamera hält, war ein surreales Erlebnis.

MusikBlog: Seid ihr denn selbst Vinylsammler?

Amelia Meath: Ich sammle eigentlich überhaupt nichts, ich beteilige mich aber ein wenig an Nicks Sammlung.

Nick Sanborn: Ich bin nämlich ein leidenschaftlicher Vinylsammler, ich habe während meiner gesamten Jugend in Plattenläden gearbeitet. Deshalb wollten wir uns unbedingt mit solch einer besonderen Aktion am Record Store Day 2017 beteiligen.

MusikBlog: Über euer zweites Album habt ihr gesagt, dass es keinesfalls wie eine Kopie des Debüts klingen solle. Heißt das Album deshalb „What Now“, weil ihr herausfinden musstet, wie ihr stattdessen klingen wollt?

Amelia Meath: Wir wollten uns nicht selbst imitieren. Wenn Musiker mit ihrem Debütalbum Erfolg haben, veröffentlichen sie häufig einen Nachfolger, der genau gleich klingt. Denn sie haben Angst davor, wie das Publikum auf Veränderungen reagieren wird. Deshalb mussten wir uns von dieser Angst vor Misserfolg befreien. Das war mit Abstand der schwierigste Teil der Arbeit an „What Now“.

Nick Sanborn: Für eine längere Zeitspanne steckten wir mit der Arbeit in einer Sackgasse fest, weil wir uns immer wieder fragten: Was nun? Wie geht es weiter? Wie nehmen wir ein zweites Album auf, ohne uns zu wiederholen? Oder eben: „What Now“? Uns hat die Einsicht geholfen, dass wir seit unserem Debütalbum komplett andere Menschen geworden sind, weil uns diese Band verändert hat, und wir schlicht ein paar Jahre älter geworden sind. Es gab also gar nicht mehr die Option, wieder so wie damals zu klingen.

MusikBlog: Das klingt, als hättet ihr sehr lange mit dem Album gekämpft, aber in einem Interview in 2015 sprichst du, Amelia, schon sehr detailliert über die Songs von „What Now“ und deutest an, dass die Arbeit fast abgeschlossen ist.

Amelia Meath: Das war gelogen, das habe ich mir einfach ausgedacht. (lacht)

Nick Sanborn: Hast du das wirklich getan?

Amelia Meath: Ja, ich wollte nicht zugeben, wie schleppend die Arbeit voran ging.

MusikBlog: Also war das genau die Zeit der Schreibblockade?

Amelia Meath: Genau. Wir hatten damals die Idee, das zweite Album nicht erneut in Durham aufzunehmen, wo unser Debütalbum entstanden ist. Allerdings funktionieren wir als Band nicht richtig, wenn im Studio noch ein Manager oder ein Tontechniker anwesend ist. Wir müssen alleine sein, wenn wir an Songs arbeiten, weil es sonst schnell peinlich wird, wenn man vor anderen Menschen über kreative Entscheidungen sprechen muss.

Nick Sanborn: Wir haben kein Problem damit, uns gegenseitig beim Scheitern zuzusehen, aber vor anderen Menschen blamieren wir uns nur ungern. (lacht)

MusikBlog: Das Album beginnt mit Amelias Gesang, der zunächst nur als verfremdetes Geräusch zu hören ist, erst nach und nach schält sich der natürliche Klang der Stimme aus dem Lärm und wiederholt die Zeilen: „I was gonna write a song for you/ Gonna sing it out loud.“ Warum beginnt ihr das Album mit einem Song über das Scheitern von Musik als Kommunikationsmittel?

Nick Sanborn: Es gibt verschiedene Gründe, warum genau dieser Song das Album eröffnet. Zunächst fühlt es sich wie eine logische Fortsetzung unseres Debütalbums an, das mit einem Schlaflied endet. Der Song „Sound“ verkörpert dagegen ein langsames Erwachen aus einem längeren Schlaf, was ja auch zu unserer Band passt. Außerdem wussten wir bei dem Klang von Amelias verfremdeter Stimme sofort, dass dieser am Anfang des zweiten Albums stehen muss. Aber es stimmt, Amelias Mantra klingt sehr melancholisch und bedauernd, weil sie es in der Vergangenheitsform vorträgt: Ich wollte dir ein Lied schreiben, aber ich konnte mein Versprechen nicht einhalten.

MusikBlog: „Sound“ ist außerdem einer von zwei Songs auf „What Now“, in denen sich Menschen in Musik verwandeln. In „Song“ heißt es später: „I’m the song that you can’t get out of your head.“ Träumt ihr davon, euch in Musik zu verwandeln?

Amelia Meath: Absolut, es ist mein größter Traum, vor allem wenn ich traurig bin. Andere Menschen möchten sich in solchen Momenten in ihr Haustier verwandeln, ich wäre gerne eine Melodie.

Nick Sanborn: Sie redet wirklich viel davon. (lacht) Es geht dabei aber auch um ein Gefühl, das jeder Musikliebhaber kennt, nämlich den Moment, wenn man sich so sehr emotional von einem Song mitreißen lässt, dass man das Gefühl hat, eins zu sein mit diesem Song.

MusikBlog: Und in welche Melodie würdet ihr euch gerne verwandeln?

Amelia Meath: Ich mag die Idee, dass ich mir meine Melodie nicht selbst auswählen kann, sondern von ihr ausgewählt werde.

MusikBlog: Im Song „Die Young“ wird das jugendliche Motto „Live fast, die young“ ad absurdum geführt, indem die Protagonistin sich wegen ihres Liebhabers gegen einen frühen Tod entscheidet. Wie kamt ihr darauf, dieses Motiv umzukehren?

Amelia Meath: Der Song entstand aus der Verzweiflung einer sehr langen Schreibblockade, die mich über Wochen gequält hatte. Nach wochenlangen Misserfolgen entstand der Song in gerade einmal sechs Minuten. Ich wollte endlich auch ein Liebeslied schreiben, aber ohne die typischen Klischees.

Nick Sanborn: Im Song geht es darum, sich für die weniger wilde, gemäßigtere Variante einer Beziehung zu entscheiden und sich von den romantischen Vorstellungen aus der Jugend zu verabschieden. Von diesem Wandel handelt das gesamte Album. Während des Schreibens hatten wir das Gefühl, dass ein neues Kapitel in unserem Leben anbricht, und dass wir uns von einigen jugendlichen Träumen und Ideen verabschieden.

MusikBlog: Um Jugend geht es auch im zweiten Song „The Glow“, der an Amelias Schulzeit erinnert, als du das Album „The Glow Pt. 2“ auf dem Discman gehört hast. Verwendet ihr deshalb den Sound einer springenden CD, um nostalgisch an diese veraltete Technik zu erinnern?

Nick Sanborn: An den typischen Sound springender CDs wurde ich erinnert, als ich meine Eltern besucht habe. Ich hatte diesen Klang fast völlig vergessen, gleichzeitig weckte er so viele Erinnerungen. Mir fiel außerdem auf, dass dieser Soundeffekt heute sehr musikalisch auf mich wirkt, während er mich in meiner Jugend nur frustriert hatte. Zusätzlich verwende ich den Sound einer Akustikgitarre als Referenz an den Folk der Microphones. Es klingt also insgesamt wirklich so, als würde man The Microphones auf einem schlechten Discman hören, wovon Amelia ja auch singt.

MusikBlog: Auch „Radio“ handelt vom Musikhören, besonders aber von den schmutzigen Seiten der Musikindustrie. Fühlt ihr euch unwohl als Teil dieser Industrie?

Amelia Meath: Der Song richtet sich weniger gegen die Musikindustrie, sondern viel mehr gegen mich und meinen Wunsch nach Erfolg. Ich erwische mich immer wieder bei dem Gedanken, ob unsere Songs im Radio funktionieren, weil ich wirklich gerne einen solchen Radiohit schreiben möchte.

MusikBlog: Es ist sicher auch kein Zufall, dass der Song mit drei Minuten und 30 Sekunden exakt die Länge einer perfekten Radiosingle hat?

Nick Sanborn: Ich bin ziemlich stolz, dass der letzte Schlag des Beats exakt nach dreieinhalb Minuten ertönt. Das war tatsächlich Absicht, der gesamte Song reflektiert unseren Wunsch, einen solchen Radiosong zu schreiben.

MusikBlog: Imitiert oder parodiert die Produktion des Songs noch an anderen Stellen die Formel für einen perfekten Pophit?

Nick Sanborn: Wir wollten auf jeden Fall, dass der Song klingt, als könnte er in der heutigen Zeit im Radio laufen. Der Song steigert sich nach und nach, der Höhepunkt klingt beinahe wie eine Parodie auf Radiohits, treibt das Konzept im wahrsten Sinne auf die Spitze. Deshalb waren wir auch ein wenig besorgt, wie unsere Fans auf die Single reagieren würden.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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