Mit gut einem Dutzend teils hochgelobter Platten in verschiedenen Zusammenhängen hat sich Barbara Morgenstern zu einer der wichtigsten Indie-Musikerinnen im Land gemausert. Selbst das Goethe-Institut hat sie dafür schon mal auf Welttournee geschickt. Ihr neues Album zeigt dabei aufs Neue, warum sich die 47-Jährige Autodidaktin aus Hagen nach ihrem Gründungsbeitrag zur Hamburger Schule fast zwei Drittel ihres Lebens am Puls des Pop befindet: Selten zuvor sind Nostalgie und Moderne so elegant verschmolzen wie auf „Unschuld und Verwüstung“.
MusikBlog: Barbara, gibt es aus deiner Sicht so etwas wie zeitgenössische Musik?
Barbara Morgenstern: Oha, das ist ja mal ‘ne Steilvorlage in die Metaebene. Inwiefern zeitgenössisch?
MusikBlog: Insofern, ob Musik eine Art zeitlichen, also historischen Kontext hat, von dem sie sich nicht abkoppeln lässt.
Barbara: Aus der Gegenwart betrachtet, gibt es da bestimmt zeitgenössische Musik. Wenn ich mir Hayti anhöre oder diese ganzen Trap-Geschichten, gehören die schon rein technisch exakt in den Kontext der Epoche. Aber jede Zeit hat zugleich Musik, die sie überdauert.
MusikBlog: Hat deine Musik das Potenzial, sich vom Kontext ihres Entstehens zu lösen?
Barbara: Ich hoffe, würde sie aber diesbezüglich als Hybrid bezeichnen. Ich mache mir über den Klang eines Albums sehr lang Gedanken und bin immer bereit, die vorhandene Technik dafür so auszureizen, dass alles relativ modern und zeitgenössisch klingt. Dazwischen aber gibt es immer auch Stücke mit Piano oder Akkordeon, die sich davon abkoppeln und zeitlos werden.
MusikBlog: Ist es also gewollt, dass deine Alben meist zugleich nostalgisch und futuristisch klingen?
Barbara: Schon, klar. Mein Sound ist zwar zu kleinteilig und die Stimme zu brüchig für die Ewigkeit, aber wer Musik macht, hat immer das Bedürfnis, Songs zu schreiben, die bleiben und zugleich die Gegenwart zu spiegeln. Ich überlege mir bei jedem Album, welche Art Keyboard im Vordergrund stehen soll. Wenn die Wahl wie bei „Unschuld und Verwüstung“ auf Harmonium oder Piano fällt, deckt es naturgemäß eng gefasste Musikepochen ab, was durch das orchestrale Element eines Saxofons noch verstärkt wird. Die Elektronik hingegen ist voll im Hier und Jetzt, da ist es mit dem abgenutzten Begriff Neoklassik also nicht getan.
MusikBlog: Hast du dafür irgendwelche Referenzgrößen, vielleicht gar Vorbilder?
Barbara: Nee, da bin ich schon ganz bei mir selbst. Deshalb höre ich im Entstehungsprozess auch möglichst wenig Musik von anderen.
MusikBlog: Ist es daher Zufall, dass die Platte an Kristof Schreuf (Kolossale Jugend) erinnert, Die Heiterkeit oder Kante?
Barbara: Dass Kante bei mir einfließt, ist sicher kein Zufall, so viel wie ich die gehört habe. Ich fühle mich allein schon deren Harmonik verbunden, dem Opulenten, Orchestralen. Und natürlich beeinflusst mich auch ein Kristof Schreuf, aber weder gewollt noch geplant.
MusikBlog: Was beide mit dir verbindet, ist in jedem Fall die manchmal verschrobene Poesie der Texte. Lassen sich die dechiffrieren oder wollen sie gar nicht wirklich verstanden werden?
Barbara: Also ich könnte dir jeden Text erklären, jede Zeile hat eine konkrete Bedeutung.
MusikBlog: Nehmen wir zum Beispiel „Angel’s Whisper“ – ich habe versucht dahinter den tieferen Sinn zu entdecken, bin aber gescheitert.
Barbara: „Angel’s Whisper“ heißt ein Wein, den ein Freund bei einer Weinprobe getrunken hat und danach gestorben ist.
MusikBlog: Krass! Aber nicht am Wein?!
Barbara: Man weiß nicht, warum. Im Song lasse ich Revue passieren, was das Ereignis mit mir zu tun hat, mit meiner Tochter, mit ihm und erhoffe mir somit einen Zugang zum eigenen Umgang damit.
MusikBlog: Aber schon so verrätselt, dass es Hörern nicht sofort klar wird, worum es geht?
Barbara: Ihr sollt schon ein bisschen rätseln und im Idealfall sogar eigene Deutungen des Liedes finden. Ich erlebe es oft, dass Leute mich mit ihrer Interpretation eines Songs überraschen. Bei „Teil 1 oder Teil 2“ zum Beispiel kam jemand nach dem Konzert zu mir und meinte, da ginge es doch um Beziehung. Das tut es nicht, aber die Interpretation ist absolut denkbar.
MusikBlog: Kann es sogar sein, dass die Interpretation anderer auch dir selbst neue Perspektiven auf deine Songs und ihre ursprüngliche Bedeutung ermöglicht?
Barbara: Kann sein und ist jedesmal toll!
MusikBlog: Geht es denn in „Brainfuck“ tatsächlich um Depression?
Barbara: Es geht zumindest ums Gedankenkarussell, in dem man nachts sitzt, wenn man nicht aufhören kann, zu grübeln.
MusikBlog: Man oder du?
Barbara: In diesem Fall singe ich tatsächlich von mir, auch wenn Texte oft Freunde vor Augen haben. Aber grundsätzlich sind meine Texte immer autobiografisch; ohne Bezug zur Person, die sie singt, fällt es Musik aus meiner Sicht schwer, wirklich zu berühren. Wenn man es gut zu lesen versteht, kann man mir durch meine Songs schon sehr nahe kommen.
MusikBlog: Führst du am Ende Therapiegespräche mit deinem Publikum?
Barbara: So weit würde ich nicht gehen. Die Leute sollen an meine Gedanken andocken können und sich im Bestfall darin wiederfinden, Therapie klingt so nach Dienstleistung. Als meine Tochter neulich fragte, wann ein Musikstück eigentlich gut sei, meinte Gudrun Gut, wenn es von mir erzählt. Dem ist nichts hinzuzufügen, so musiziere ich mein Leben lang – zunächst unbewusst, später bewusst.
MusikBlog: Was treibt dich an, dieses Mitteilungsbedürfnis mittlerweile mehr als die Hälfte deines Lebens in Musik zu gießen?
Barbara: Abwechslungsreichtum. Außerdem entwickelt sich meine Persönlichkeit weiter und setzt dabei einerseits neue Themen. Andererseits ist es mir wichtig, die Stufen dieser Entwicklung sichtbar zu machen. Wenn mir jemand mit 50 erzählt, wie toll seine Partys sind, finde ich das uninteressanter als seinen reflexiven Umgang mit diesem Lebensabschnitt. Deshalb stehe ich auf Joni Mitchell, deren Lieder von ihrem Leben in der Zeit erzählen, in der sie es lebt.
MusikBlog: Also keine Wunschvorstellungen oder Sehnsüchte.
Barbara: Genau. Da geht es zurück zur Eingangsfrage nach den Schnittmengen von Nostalgie und Gegenwart, immer vermittelt durch eine gewisse Art Sprache, die mir am Herzen liegt.
MusikBlog: Zum Beispiel?
Barbara: Etwa, dass ich in „Wortschatz“ die Verrohung öffentlicher Diskurse beklage, in denen Begriffe wie „Volksverräter“ oder „Asyltourismus“ plötzlich sagbar sind, das aber nicht offen ausspreche, sondern singe: „Und der Wortschatz verlässt den Salon / schlägt sich an den Kopf und verliert die Fasson“.
MusikBlog: Könntest du entlang deiner Alben eine Art Autobiografie schreiben, die sämtliche Stationen deiner Entwicklung beinhaltet?
Barbara: Natürlich.
MusikBlog: Aber entsteht bei so viel Bedeutsamkeit nicht manchmal das Bedürfnis, ganz belanglosen Trallalla-Punkrock zu machen, ohne Tiefgang, einfach Spaß?
Barbara: Ach, ich mache ja genügend Sachen abseits der Solo-Platten, wie meinen Chor in Berlin, Kindertheater, Tausend Kollaborationen, konkret plane ich ein Instrumental-Album mit meinem Saxofonisten – alles natürlich auch, um mal ein Stück weit von mir wegzutreten, aber nicht aus irgendeiner Not heraus, sondern weil es mir ein Freudenquell ist.
MusikBlog: Du hast also nachts keinen “Brainfuck”, weil du mit dir und deinem Leben nicht im Reinen bist?
Barbara: Im Gegenteil. Mein Kopf ist manchmal einfach so voller Ideen, dass tagsüber nicht genug Zeit bleibt, ihn auszuleeren. Mir geht’s gut.
MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.