Ich bin Vielzahl, ich dehne meine Identität – Hans Unstern im Interview

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Beim Avantgarde-Künstler Hans Unstern, der vermutlich anders heißt, lässt sich das unmöglich beantworten. Vom poetischen Kammerspieltechno über die Bandzusammensetzung bis hin zum Geschlecht des Berliners bleibt fast alles im Ungefähren, seit er 2010 mit „Kratz Dich Raus“ sein vielbeachtetes Debütalbum veröffentlicht hat. Nach allerlei Projekten und Kooperationen kommt nun sein viertes Album „Diven“ heraus, in dem er wieder permanent mit Stil, Identität und einem Instrumentarium selbstgebauter Harfen spielt.

MusikBlog: Hans Unstern, wie viel hat Musik aus deiner Sicht mit unserer westlich geprägten Harmonielehre zu tun und wie wenig mit dem Kosmos an Tonabfolgen, die sich jenseits davon abspielt?

Hans Unstern: Ich finde es schön, alle mich umgebenden Geräusche als Musik wahrzunehmen. Ich sitze im Hinterhof und höre das Konzert der Amsel im Rauschen der Silberpappel zu den Motoren-Sounds von der Straße und den Stimmen der Nachbar*innen am Balkon. Und plötzlich brummt eine Hummel an meiner Nase vorbei. Hier wird komponiert. Ich glaube, in diesem Wahrnehmen spielen immer auch verinnerlichte Harmoniefolgen mit, aber auch Neue Musik und Improvisationserfahrungen. Gleichzeitig hat all das in solchen Momenten keine Bedeutung.

MusikBlog: Heißt das, bezogen auf die Musik deiner neuen Platte „Diven“, du widersetzt dich bewusst der formalistischen Sicht auf Kompositionen mit dem Ziel, das Strukturbedürfnis des Publikums, dessen Suche nach Halt in Abfolgen von Strophe, Chorus, Refrain zu unterwandern?

Hans Unstern: Für mich sind das Popsongs, die wie ein Kunstlied oder eine Ballade eine Geschichte erzählen. Das Arrangement auf der Harfe ergibt sich aus diesem Storytelling und seiner Dramaturgie. Und aus der fortlaufenden Wucherung einer Klang-Sprache, bei der ich – neben meinen eigenen – auch immer an den losen Fäden anderer Musiker*innen weiter stricke, knüpfe, häkle.

MusikBlog: Welche zum Beispiel?

Hans Unstern: Ich höre da ganz deutlich, wo Alice Coltrane, Joanna Newsom, Lana del Rey, Laurie Anderson oder Mykki Blanco mitklingen. Aus diesen Verwachsungen entsteht dann aber immer etwas, das für sich steht, mit einem eigenen Bogen. Aber ich versuche nichts zu unterwandern. Zuerst kommt bei mir immer ein Text, der dann nach einer Musik fragt. Und die Komposition und die Klänge sind die Antwort darauf. Die Texte können das immer ganz gut sagen, welcher Klang zu ihnen passt. Die Klänge und Abfolgen sind mir vollkommen einleuchtend, sie wurden von den Texten gerufen und sind ihre Gefährt*innen.

MusikBlog: Das heißt, du bist ein Poet, der letztliche Gedichte vertont?

Hans Unstern: Ich bin Dichter und Musikerin. Mich interessiert die Kombination.

MusikBlog: Wenn du „ich“ sagst und dabei zwischen „Dichter“ und „Musikerin“ differenzierst – welche Identität, welches „Ich“ ist damit gemeint?

Hans Unstern: Ich bin Vielzahl. Ich dehne meine Identität. Ich brauche Selbstauslöser*innen, um ein Selbst zu konstruieren. Hans Unstern puzzelt sich zusammen.

MusikBlog: Heißt das, die irritierende Vielfältigkeit deiner Musik ist Ausdruck deiner vielfältigen Identitäten, in denen ja auch Geschlechterzuweisungen keine Rolle spielen?

Hans Unstern: Vielleicht hat das einen Zusammenhang. Einen Plan dazu gibt es jedenfalls nicht. Mich interessiert das Werden weit mehr als das Sein.

MusikBlog: Erzogen wurdest du aber als das, was heutzutage Cis-Gender genannt wird, also mit dem sozialen Geschlecht des Mannes?

Hans Unstern: Ich finde die Praxis, Geschlechter bei der Geburt eindeutig in eine der beiden Schubladen zu stecken, die der Mainstream erlaubt, eine gefährliche Vereinfachung. Ich will, dass die Unendlichkeit der Geschlechter ernst genommen wird.

MusikBlog: Ist das auch Thema des letzten Liedes deiner neuen Platte „Cis“, das die Doppeldeutigkeit des sozialen Geschlechts und der Musiknote zum Ausdruck zu bringen scheint?

Hans Unstern: Es ist schön, dass du beides darin hörst. Schon, weil ich mich immer freue, wenn die Leute sich ihren eigenen Reim auf meine Texte machen.

MusikBlog: Was hat es dann mit dem Ticken auf sich, das den Song durchsetzt – ist damit die Zeitbombe toxischer Männlichkeit beschrieben, deren ablaufende Uhr oder interpretiere ich die Metaphorik deiner Kompositionen damit heillos über?

Hans Unstern: Auch ich entdecke in meinen Songs gelegentlich noch Seiten, die mir anfangs gar nicht bewusst waren. Das ist ja gerade das Spannende, oft Magische an Musik.

MusikBlog: Welche Rolle spielen bei deiner Interpretationsoffenheit Instrumente, die du im Fall von „Diven“ sogar selbst entworfen und gebaut hast?

Hans Unstern: Sie spielen eine große Rolle. Das hat während der Produktion des zweiten Albums 2012 angefangen. Schon damals wollte ich Harfe spielen, etwas daran hat mich magisch angezogen. Und so haben Simon Bauer und ich die ersten Harfen gebaut und so das Instrumentarium erweitert.

Jetzt, siebeneinhalb Jahre später, mit ausschließlich selbstgebauten Harfen auf der Bühne, fühle ich mich so wohl wie nie im Scheinwerferlicht. Und wie anstrengend es war sich zu verstecken! Mit der Gitarre in der Hand war das immer meine Reaktion. Die Suche nach einem Versteck. So wie die Kompositionen bei mir ein Resultat der Texte sind, sind sie es nun auch von der Beschaffenheit der Harfen, die teilweise mit kleinen Hubmagneten/Robotern ferngesteuert werden.

MusikBlog: Kybernetischer Pop.

Hans Unstern: Nicht Kybernetik. Aber Aleatorik, also Kompositionsprinzipien, die auf Zufall basieren. Das Arrangement für den Song „Keine Zeit“ zum Beispiel entstand bei einer Improvisation mit der akustischen Harfe zu einem schmatzenden, meditativen Beat. Dieser setzt sich aus vielen rhythmischen Figuren zusammen, die im Sequenzer von einem Zufallsgenerator aneinandergereiht werden. Für die Klangformung des Beats verstärkte Simon Bauer, die mechanischen Geräusche der Relais, die die Impulse zum Auslösen der Hubmagnete an die Metallharfe schicken. Statt dieses Klicken als Störgeräusche wahrzunehmen und zu versteckten, betrachteten wir es als Ausgangspunkt für das Arrangement des Songs.

MusikBlog: Das klingt fast, als spielen die Instrumente euch statt umgekehrt.

Hans Unstern: Als die V-Harfe durch diese Automatisierung zu einer Maschine wurde, wollten wir ihr zumindest viel Autonomie geben. Sie ist nicht nur befehlsempfangende Klangerzeugerin, wie wir es von anderen Orchester-Apparaturen kennen, sondern gibt uns gleichermaßen Befehle mit Arbeitsanweisungen zurück. Wir bedienen die Maschine also in zweierlei Hinsicht. Einmal in Gang gesetzt, werden wir zu Fließbandarbeiter*innen, gefangen im laufenden Produktionsband der Maschine.

MusikBlog: Habt ihr das vor der Schließung sämtlicher Konzertsäle schon mal live erprobt?

Hans Unstern: Es gab letztes Jahr schon ein paar Testkonzerte. Und mit dem fertigen Album kriegen wir es hoffentlich an einen Punkt, damit auf Tour zu gehen. Wir versuchen immer, die Instrumente fürs Publikum zugänglich zu machen. Bislang hat das Publikum mit interessierter Neugierde auf die Harfen reagiert. Aber das steht im Moment ja nicht so an…

MusikBlog: Wobei wir es jetzt geschafft haben, im April 2020 ein ganzes Interview ohne das böse C-Wort zu führen (C für Corona, Anm.d.Red.).

Hans Unstern: Toll, ja. Belassen wir’s doch dabei.

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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