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An Streitereien haben wir wenig Interesse – Tocotronic im Interview

Kaum eine andere Band hat die deutsche Musiklandschaft um derart viele wortgewandte wie treffende Parolen bereichert wie Tocotronic. Umso schöner, dass sich diese Bissigkeit auch nach fast 30 Jahren Bandgeschichte noch nicht abgewetzt hat, sondern auf dem dreizehnten Studioalbum „Nie wieder Krieg“ genauso schillernd den Zeitgeist festhält. Mit Bassist Jan Müller sprachen wir über die Jugend, den Verzicht auf Verzweiflung und das Gefühl der Dauerbegeisterung.

MusikBlog: Seit einigen Jahren bist du im Rahmen deines Podcasts selbst zum Interviewer geworden. Was magst du lieber: Interviewen oder interviewt werden?

Jan Müller: (lacht) Es ist beides schön. Seit ich selbst interviewe, gebe ich auch wieder lieber Interviews. Auch weil ich merke, wieviel Arbeit darin steckt und wie schwierig es ist, wirklich gute Fragen zu stellen, die nicht blöd sind. Obwohl wir mit Tocotronic seit einigen Jahren das Privileg haben, dass uns meist sehr interessierte Gesprächspartner gegenübersitzen. Früher gab es das öfter, dass man sich nach einem Interview überhaupt nicht erfasst fühlte.

MusikBlog: Tocotronic hat eine selbsterklärte Leidenschaft zum Sloganeering. Was ist deine Lieblingsparole aus der Musikwelt?

Jan Müller: Puh, das appelliert jetzt an meine Spontanität (überlegt). Kann ich die Antwort auf später verschieben?

MusikBlog: Klar. Gibt es denn einen Slogan, der euch als Band perfekt beschreibt?

Jan Müller: Da fällt mir gerade leider auch nichts ein. Ein paar Adjektive vielleicht. Ich bewundere Dirk (von Lowtzow) aber auch sehr dafür, dass es ihm so leicht fällt, griffige Slogans zu kreieren. Ich bin da gar nicht gut drin.

MusikBlog: Dirk hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass für ihn gleich zu Beginn – als ihr euch kennengelernt habt  – klar war, dass etwas Besonderes entsteht. Ging dir das auch so?

Jan Müller: Auf jeden Fall. Das war eine ganz tolle Zeit. Ich kannte Arne schon sehr lange aus der Schule und wir sind mit unserem künstlerischen Tun eigentlich nie aus dem Proberaum herausgekommen. Als Dirk dann dazu kam, war es so, als hätten wir aufeinander gewartet. Es entstand direkt eine großartige Dynamik und ich werde an diese Zeit immer mit sehr viel Wärme zurückdenken.

MusikBlog: Wodurch war diese besondere Dynamik gekennzeichnet?

Jan Müller: Wir lebten in einem Zustand der Dauerbegeisterung. Es ist ein bisschen so, wie wenn man sich frisch verliebt hat und ständig zusammen sein will. Mit dem Unterschied, dass wir die ganze Zeit noch Produktives getan haben, wie Proben und Aufnehmen.

MusikBlog: Euer neues Album heißt „Nie wieder Krieg“. Nicht gerade eine realistische Forderung, oder?

Jan Müller: Vor allem steckt in diesem Imperativ sehr viel Hoffnung, denn die darf man nie aufgeben. Wenn man ehrlich ist, sah es noch nie wirklich nach Weltfrieden aus. Die Kriege rücken gerade näher. Das kann Angst machen. Aber trotzdem darf man sich diesem Gefühl nicht ergeben. Es geht eher darum, die Situation zu analysieren und eine Position dazu zu beziehen. Auch aus diesem Grund ist das Album mehr persönlich als politisch.

MusikBlog: Verzweiflung ist also nicht so dein Ding?

Jan Müller: Nein, gar nicht. Es gibt auch dafür meiner Meinung nach noch keinen Grund. Ich finde es toll, dass es gerade so viele junge Menschen gibt, die sich engagieren in Bewegungen wie „Fridays For Future“. Diesen Schritt, den hingegen manche gehen und so tun, als stünde uns die Apokalypse bevor, den finde ich falsch. Ich bin seit 50 Jahren auf der Welt und seitdem hat sich auch Vieles zum Positiven gewendet. Beispielsweise die Diskurse über Geschlechtergerechtigkeit, obwohl der Weg auch da natürlich noch längst nicht zu Ende gegangen ist. Ich bin ein optimistischer Mensch und denke, dass sich eben auch vieles zum Positiven entwickelt. Resignation ist mir fern.

MusikBlog: Gibt es etwas, das in euch als Band Krieg auslöst?

Jan Müller: Klar, aber eher banale Dinge. Das ist auch das Schöne daran, wenn man so lange miteinander Musik macht und sich so gut kennt. Man weiß genau über die Befindlichkeiten der Anderen Bescheid und das ergibt manchmal so lustige Effekte, dass man beispielsweise absolut vorhersehen kann, wie sich ein Gespräch entwickeln wird. Wenn jemand z.B. die Frage in den Raum wirft, wann wir am nächsten Tag mit der Probe starten sollen. Man weiß genau, wer gerne um zehn anfangen möchte und wem das zu früh ist. Das sind so kleine festgefahrene Alltagsmuster, die uns immer wieder begegnen. Wir reden gerne, wir diskutieren, aber an Streitereien haben wir wenig Interesse.

MusikBlog: Der Titelsong eures Albums handelt von Menschen an den Kipppunkten ihres Lebens. Habt ihr euch als Band im Laufe eurer Karriere jemals an einem befunden?

Jan Müller: Nein, nicht wirklich. Natürlich hat man mal Krisen, aber es stand nie zur Debatte, dass wir getrennte Wege gehen. Aber ich denke, jeder von uns persönlich hat sich schon mal an einem Punkt befunden, wo klar wurde: „Okay, ich muss was anders machen“.

MusikBlog: War die Corona-Krise so ein Punkt?

Jan Müller: Eine Sache hat mich immens gestört und zwar, dass so viele Menschen gesagt haben, dass Corona auch Chancen birgt. Das sehe ich überhaupt nicht so. Das ist eine böse Krankheit, die vielen Leuten das Leben gekostet hat und ich verstehe nicht, wie man da auf die Idee kommt, das als eine Chance zu betiteln. Natürlich hat es vielleicht ein paar gute Dinge mit sich gebracht, aber trotzdem finde ich das nicht angemessen. Und dann nutzt auch noch eine Gruppe von Menschen, die unserer Gesellschaft feindlich gesinnt ist, diese Krise als Möglichkeit, um laut zu werden.

MusikBlog: Das hingegen klingt jetzt nicht mehr nach Optimismus.

Jan Müller: Doch, natürlich. Denn parallel passieren auch ganz viele gute Dinge. Beispielsweise habe ich das Gefühl, dass es in der Jugend wieder Ideale gibt, die nicht materialistisch geprägt sind und sich dem Konsumdruck nicht beugen. Das habe ich vor zehn Jahren noch anders wahrgenommen. Aber, weil es diese Bedrohung dieser lauten Minderheiten mit fragwürdigen Einstellungen gibt, ist es wichtig, auch Farbe zu bekennen. Deswegen haben wir beispielsweise auch den Song „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ vor der Bundestagswahl veröffentlicht.

MusikBlog: Apropos Gott: Früher war die Kirche für die Vermittlung von Werten zuständig. Wem fällt diese Aufgabe jetzt zu?

Jan Müller: Das machen wir, Tocotronic. (lacht) Das ist natürlich vielschichtiger geworden. Ich habe gar nichts gegen die Kirche. Je nachdem, welcher Pfarrer das ist, ist es für mich in Ordnung, dass er auch noch seine Rolle spielt. Ich finde, mittlerweile muss jeder seinen eigenen Weg suchen. Und solange man das nicht bei zweifelhaften Telegram-Kanälen tut, kann man sich bedienen, wo man möchte. Ich als Musiker bin oft in der Literatur oder der Pop-Musik fündig geworden.

Übrigens ist mir mittlerweile eine Parole eingefallen. Der wichtigste Slogan in der Musik stammt für mich von KISS, die ich sehr liebe: „I wanna rock and roll all night and party every day.“ So müsste der lauten, wenn ich mich richtig erinnere.

MusikBlog: Ja, genau. Und das auch noch mit 50?

Jan Müller: Klar, so geht’s hier jeden Tag zu. So, und jetzt muss ich die Whiskeyflasche aufmachen. (lacht)

MusikBlog: Vielen Dank für das Interview.

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