Manchester Orchestra aus Atlanta stehen für prächtigen Rock und filigranen Folk, ausstaffiert mit raffinierten Arrangements und ergreifenden Melodien. Wie können ihre vergangenen Meisterwerke „A Black Mile To The Surface“ (2017) über die Bedeutung(slosigkeit) des Seins und „The Million Masks Of God“ (2021) über die Begegnung mit dem Tod eigentlich noch übertreffen werden? Richtig, mit der bisher kürzesten Platte in ihrer Diskographie.

Die Indie-Rocker befreien sich auf „The Valley Of Vision“ von der klassischen, 11 Songs langen Struktur ihrer bisherigen Veröffentlichungen und auch von der überwiegend gitarrenlastigen Ausgestaltung. Es dominieren ausdrucksstarke Klavierakkorde, treibende Rhythmen und fluoreszierende Synths.

Doch die Songs sind nicht bloß 26 Minuten Musik über die Bürde des Erwachsenwerdens, des Glaubens und der Selbsterlösung, sondern werden begleitet von einem Kurzfilm, der in Zusammenarbeit mit Regisseur Isaac Deitz das Publikum in eine virtuelle Realität eintauchen lässt. Die Szenerien in diesem 180-Grad-Video kann man sowohl mit als auch ohne VR-Brille erforschen.

„Capital Karma“ eröffnet mit elegischem Piano und einem Herzen in einem Eisblock auf einem Podest inmitten eines idyllischen Waldes. Man nähert sich einem in Trümmern liegenden Holzhaus und weiß noch nicht so recht, wohin die Reise gehen wird, als man bereits von den ausdrucksstärksten Zeilen der Platte niedergestreckt wird: „I forgave myself, so forgive yourself […] I’m in love with whoever you are“

Es folgt das dringliche „The Way“ mit brennenden Autowracks, Zeitraffermomenten und einem roten Telefon mit Zündschnur. Es stresst und wühlt auf, denn man ist längst eingetaucht und Teil dieser introspektiven Odyssee – sofern man nicht von Werbungen für Mundwasser, Waschmittel oder Möbelschlussverkäufen unterbrochen wird.

„So now that they know that you don’t belong here, where did you go and who else is in there“ im dumpfen „Quietly“ spinnt die Geschichte weiter. Alte Filmaufnahmen auf herumstehenden Fernsehgeräten, intakte Luftballone in Käfigen und bereits zerplatzte auf dem Teppichboden. Dabei ist es immer die Farbe Rot, die in allen Szenen dominiert und man möchte wissen, was passieren wird.

Füllen sich die Ballons und brechen aus oder zerplatzen sie – und sind das in Wahrheit eigentlich wir selbst? Sind wir eingesperrt und geht uns manchmal die Luft aus? Die Instrumentierung des Songs eskaliert, bevor das von Akzeptanz durchzogene „Letting Go“ wieder etwas Ruhe einkehren lässt, mit den rastlosen Drums aber weiterhin für (An-)Spannung sorgt.

„The Valley Of Vision“ ist inspiriert von den puritanischen Gebeten aus dem gleichnamigen Buch aus 1975. Damit liegt eine inhaltliche Verbindung zu den beiden Vorgängeralben nahe, was Manchester Orchestra auch bestätigen, ohne es genauer zu erläutern. Sie ziehen es vor, den Hörer*innen Raum für eigene Interpretationen zu lassen.

Die vielschichtigen Metaphern in „The Valley Of Vision“ übermannen mit einem Sturzbach an Emotionen und zelebrieren die Vergänglichkeit. Überbordende Verzweiflung und ausladender Optimismus voller Freude, Schmerz, Wut und Lethargie – die Dichte an Atmosphäre und Poesie, die Manchester Orchestra in den lediglich sechs Songs enthüllen, ist überwältigend.

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