MusikBlog - Entdecke neue Musik

Kettcar – Gute Laune ungerecht verteilt

Kettcar haben nach mehrjähriger Bandpause ein neues Werk geschaffen. „Gute Laune, ungerecht verteilt“ – so heißt das neue, vielschichtige Album der Hamburger Gruppe, in dem sich Frontmann Marcus Wiebusch erneut als versierter Textschreiber und einnehmender Geschichtenerzähler erweist.

Nach ihrer Gründung 2001 und ersten „befindlichkeitsfixierten“ Stücken weiteten Kettcar in den Folgejahren ihren Bezugsrahmen kontinuierlich. Schon 2008 schlugen sie im aufrührerischen „Graceland“ ganz andere Töne an.

Als sich Mitte der Zehnerjahre die gesellschaftliche Lage verschärfte, wandelten sich Kettcar endgültig zu einer meinungsstarken Band – von nun an mit dem Label „Polit-Pop“ versehen. Mit „Ich vs. Wir“ von 2017 unterstrichen sie, welch doppelte Kraft in Musik stecken kann: Die Kraft eines lauten Neins, das gleichzeitig zum Mitsingen animiert.

Mit „Gute Laune, ungerecht verteilt“ erklimmen Kettcar nun eine neue Stufe. War das Vorgängeralbum noch vor allem eine mit moralischen Standpunkten untermauerte These, ist das neue Werk eine dialektische Meisterleistung.

Begleitet von rockig treibenden Beats lässt Wiebusch in seinen Texten Thesen und Antithesen aufeinanderprallen. So auch im Song „Kanye in Bayreuth“, in dem es um die viel diskutierte Trennung von Autor und Werk geht.

Der digitale Mob und die cancelnde Twitter-Gemeinde werden aufgerufen, ehe wir in der dritten Strophe nach Tel Aviv befördert werden, wo im September 2018 ein Radiosender Richard Wagners „Götterdämmerung“ spielte. Nach Verklingen des letzten Tons bleiben wir erschüttert zurück.

Immer wieder zwingt uns Wiebusch mit seiner raumgreifenden Stimme, der Gegenwart ins Auge zu blicken: „Sandstrand, Junge tot, Netflix, Abendbrot“, heißt es in der im Sprechgesang vorgetragenen Single „Auch für mich 6. Stunde“. In Zeiten der Polykrise ist alles politisch.

Trotz der Themenvielfalt, die “Gute Laune ungerecht verteilt” bietet, lässt sich doch ein Hauptmotiv in Wiebuschs Texten ausmachen, das bereits im Albumtitel anklingt. Auch im lässig groovenden – und damit musikalisch herausstechenden – „Doug & Florence“ geht es um Verteilungsfragen.

„All die Türen stehen dir offen, sie sind nur alle sehr weit weg. Das kannst du gern ganz anders hoffen, es hat nur keinen Zweck.“ Lässt sich die Fiktion einer Leistungsgesellschaft und die tatsächliche Verteilung von Ressourcen und Teilhabe besser beschreiben?

Kettcar geben auf manchmal pathetische, aber nie kitschige Weise den Stimmlosen eine Stimme. Der immer wieder aufflammenden Vereinzelung setzen sie die Hoffnung auf Zusammenhalt entgegen. Die Synthese dessen – ein Meisterstück.

Facebook
Twitter

Schreibe einen Kommentar

Das könnte dir auch gefallen

Login

Erlaube Benachrichtigungen OK Nein, danke