Das Reeperbahn Festival in Hamburg geht in seine 12. Runde. 500 Konzerte in 70 Venues an 4 Tagen. Viel Altes, Vertrautes, Geliebtes und einige Neuerungen. Das neue Festival Village am Heiligengeistfeld entspannt die Akkreditierung. Ansonsten entpuppt es sich als ausgestorbene Sammlung zweitrangiger Food-Stände und Werbetrucks.

Am Spielbudenplatz alles wie gehabt, Trubel, Flatstock Posterstände, angesagtes Streetfood und definitiv genug zu Trinken. Junk-E-cat sorgt am Mittwoch auf seinem alten Feuerwehrbus für gute Laune mit Zwang zum Mitwippen. Technoider Sound mit Saxophonen, alles live gesampelt.

Mittwoch, 20.09.2017

Isolation Berlin im Docks. Früher Abend und schon gut gefüllt, eher unberührtes Publikum. Sound ist gut, fast schon zu sauber engineered. Die richtige Stimmung wie sonst mag bis zur Mitte des Gigs nicht aufkommen, dann sind sie aber angekommen und ziehen merklich an.

Dann Schwarz im Kunuu. Dramatische Geige eröffnet mit softer, leicht tanzbarer Elektronik. Der teils androgyne Gesang kann träumerisch bis ernsthaft. Über den Gig entfaltet sich eine Bandbreite von gemütlich tanzbar bis hin zu kräftig „rockigem“ Elektro.

Vök an der Spielbude. Die ersten fünf Minuten ohne Mikro nehmen die Isländerin und ihre Band gelassen und mit Spaß. Gesang unverkennbar Island, oft gehaucht, aber mit Tiefe und Druck. Mammút lässt grüßen. Ätherisch mit Substanz, die Stücke mit Saxophon entwickeln sich komplex und subtil laut. Ein Drumpad gibt den ganzen Gig über keinen Ton von sich. Hat nicht direkt gefehlt, wäre aber sicher nochmal kräftiger geworden.

EMA im Moondoo: Der gesprochene Opener „Where The Darkness Began“, unterlegt von düsterem Wummern ist das einzig Ruhige, was es heute geben wird. EMA kann „I wanna destroy“ ins Micro hauchen und man nimmt es ihr komplett ab. Dann ist vorbei mit Hauchen, es wird laut. Selbst die zwischengeschobenen Balladen schieben nach vorne, subtil aber gewaltig.

Formal gesehen trifft EMA nahezu keinen Ton – aber immer die richtige Tonlage. Die neue Schlagzeugerin schaut konsequent gelangweilt mit Panda-Rehaugen an die Decke. Dabei produziert sie super trockene, knackige Tritte in den Magen. Die Noise-Tracks sind schmaler als auf aktuellen Platte, dafür nicht minder intensiv. „Breathalizer“ ist das klare Highlight.

Donnerstag, 21.09.2017

Zeal & Ardor im Knust. Schwarze Hoodies als düstere Kutte, wenig Licht, Dröhnen. Gitarren sägen konstant, Choral wechselt zu Aggression, steiler Anfang. Gospel, Hymne, Choral, Lowtempo-Superbass, Metall-Gewitter – alles dabei. Verstärkt durch den irren Blick des düster-charismatischen Manuel Gagneux. Läuft sich auf Dauer etwas ein, „Devil Is Fine“ als Abschluss lässt den Raum platzen.

MusikBlog Newcomer Kraków Loves Adana in der Hanseplatte. Deniz Cicek’s im goldenen Glitzer-Anzug. Dunkle Stimme, sich ziehende Gitarre und leichte Elektronik im Hintergrund. Über den Gig nimmt die Intensität zu, tiefer Bass kommt und alles wird etwas rockiger. Schön harmonische lokale Klänge zur Beruhigung zwischendurch.

The Jack Wood in der Nochtwache. Sibirischer, dreckiger und dunkler Garagenrock mit starken Punkeinschlägen. Spektakuläre Show, dominiert von Frontfrau Sasha. Klein gewachsen, alles andere als klein im Ausdruck. Quirlender Derwisch mit intensiver Stimme, singend, fast jaulend, kreischend – immer stark. Sie tobt über die Bühne, den Boden, die Boxen, das Schlagzeug, einfach überall. Gymnastisch, zuckend, tanzend, aufreizend, genitalfixiert, bedrohlich. Viel zu kurz.

IDER im Nochtspeicher: Minimalistische Elektronik als Duett. Sozusagen A Capella mit Wumms und Singer/Songwriter-Auftreten. Eingespieltes Team, anstatt Taktstock Augenkontakt. Schön anzuhören zum Mitwippen.

Sado Opera in der Nochtwache. Was soll ich sagen. Turbulent, Bunt, Queer. Schräge Unterhaltung pur.

Am frühen Abend lösen Kettcar dann noch ihr am Morgen abgegebenes Versprechen ein und spielen einen Überraschungsgig auf dem Lattenplatz vorm Knust.

Freitag, 22.09.2017

Je schöner das Festival, desto zahlreicher die Gäste. Was beispielsweise zur Folge hatte, dass sich mit Öffnung der Türen zur Ray’s Reeperbahn Revue im Schmidt Theater der Raum – einem trockenen Schwamm ähnlich- in kürzester Zeit vollsaugte.

Ein Phänomen, das nicht nur bei dieser Veranstaltung dazu führte, das der ein oder andere Interessent entweder lange Wartezeiten oder gar kein Reinkommen in Kauf nehmen musste (alle die der Initiativbewerbung von Liam Gallagher folgten, wissen, wovon die Rede ist).

Wer nicht zur Klaustrophobie neigte, konnte aber bereits am Freitag Nachmittag die Hamburger Lokalmatadoren Selig im Chikago ihr neues Album „Kashmir Karma“ (VÖ am 3.11.2017) sowie alte Gassenhauer vorführen sehen.

Im von der Schweiz annektierten Sommersalon bewiesen nach dem obligatorischen Käse-Fondue Egopusher, dass ihre außergewöhnliche Fusion aus Elektro und Klassik auch live hervorragend funktioniert.

Noch enger ging es im verschlungenen, zur Sauna geratenen Grünen Jäger am Abend zu. Aus gutem Grund, denn mit Inheaven war eines der Festival-Highlights am Start. Die Begeisterung für den druckvollen Sound wurde selbst durch die miserable Akustik nicht gebremst.

Danach gefiel King Creosote im Imperial Theater nicht nur mit seinem Akustikset, sondern auch mit intim-persönlichen Geschichten.

Nadine Shah im Mojo Club. Zuerst etwas verloren auf der Bühne ist sie im Element, während sie singt. Man spürt förmlich ihre Wut, die sich durch die aktuelle Scheibe zieht. Die Band exerziert akkurat die aktuelle Platte „Holiday Destination“ durch, nur das Saxophon klingt ähnlich rostig wie es aussieht. Nadines Stimme deutlich tiefer und emotionaler. Alles in allem sehr gelungen.

Razor Shines auf der Spielbude. Zwei junge Damen, Gesang und Bass, dazu Schlagzeug und Synthies vom Band im Hintergrund. Die Gitarre fehlt nicht. Tanzbarer Pop-Punk mit Komplexität und eingehender Stimme.

The Weyers im Sommersalon. Zwei Brüder aus der Schweiz, zu groß für die kleine Bühne. Abwechslungsreicher Rock mit nur Gitarre und Schlagzeug. Die Gitarre abwechslungsreich eingesetzt, mal sägend, dann à la The Kills und danach als Ersatz für den Bass. Die Bühnen-Erfahrung merkt man ab der ersten Sekunde, der kleine Raum tobt, das wäre auch auf großer Bühne gegangen.

Lydmor im St. Pauli Museum. Originelle Location, kleiner Nebenraum als Bühne, alles rappelvoll, Licht aus geht nicht. Die blonde Dänin in großer Ballonhose und Sportbra, bemalt mit tribal anmutenden Mustern. One-Girl Electro-Show der extrovertierten Art. Perfekt auf die Musik abgestimmte LED Röhren, die Köperbemalung leuchtet im Schwarzlicht. Alles ist Bühne, der Nebenraum, das Publikum, die Theke um die Ecke. Keinerlei Berührungsängste mit dem Publikum, im wahrsten Sinne des Wortes.

Samstag, 23.09.2017

Lisa Mitchell bot am Samstagnachmittag beim PIAS/FKP Barbecue im Molotow Backyard (vom Grill gab es allerdings außer den üblichen Bratwürsten nichts) eine solch liebevolle Performance, dass sich die Sonne an diesem schönen spätsommerlichen Tag gerührt ein paar Wolken griff und verstohlen die Augen wischte.

Mit den Anchor Awards fand um 17:00 im St. Pauli Theater ein wichtiges Branchenereignis statt. Für den Preis nominiert waren u.a. Preis für Popkultur Gewinnerin Alice Merton, die deutschen Indie-Rock-Erneuerer Pabst aus Berlin sowie Ex-Boxer Joseph J. Jones.

Von der Jury, bestehend u.a. aus Emily Haines, Shirley Manson (Garbage) und Produzentenlegende Tony Visconti wurde letztlich die Londonerin Jade Bird zur Gewinnerin auserkoren, nicht ohne vorher ausführlich zu betonen, dass die Auswahl sehr schwer war und alle Nominierten Top-Künstler sind.

Am Abend hatte man die tägliche Qual der Wahl. Eine gut gelaunte Marika Hackman unterhielt das Publikum im Nochtspeicher mit tiefer Stimme und Verstärkung durch ihre Tourband.

Candelilla krankheitsbedingt nicht am Start, das gibt einen weiteren Auftritt für LeVent im Kaiserkeller. Ein Stück braucht es zum Aufwärmen, dann geht es zur Sache. Gitarre und Bass akkurat und so knackig gezupft, dass es direkt in den Bauch geht. Das schiebt nach vorne. Ohne Chi-Chi zeigen sie, wie man Komplexität und Spaß maximal laut unter’s Publikum bring. Einer der besten neuen Bands des Jahres 2017!

Let’s Eat Grandma in der Prinzenbar. Zwei Mädels von der Insel, 16 und 17 Jahre jung (begannen bereits mit 12, Musik zu veröffentlichen). Abwechslungsreiche Performance mit Klatsch-Spielchen vom Schulhof, gepaart mit kräftigem Pop. Drei Keyboards, Flöte, Gitarre, Xylophon. Ein ganzes Arsenal sorgt für den richtigen Level Psychedelik und Experimental. Von den beiden werden wir noch mehr hören.

Später im Knust begeisterten Waxahatchee mit krachendem Indie-Rock und bildeten beinahe das Highlight des Abends, würde nicht Dillon etwas später mit zitternden Knien („Ich bin unfassbar nervös.“) in der wohl spektakulärsten Reeperbahn Festival Location Elbphilharmonie ein ganz großes Finale darbieten.

Dillon spielte viele Songs von ihrem neuen, dritten Album „Kind“, das am 10. November erscheint. Sowas hatte sie noch nie zuvor gemacht, wie sie bekannte und freute sich, mit dem Publikum „ein Geheimnis zu teilen“. Der Titel „Contact Us“ geriet zum Highlight und „Abrupt Clarity“ beschloss das wieder großartige Reeperbahn Festival.

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