Ein weiblicher David Bowie, ein Vater, der nach knapp zehn Jahren aus dem Knast kommt, die Plattensammlung aus den Siebzigern und das unverwüstliche New York City: St. Vincent ist mit neuen Vibes zurück und macht erneut Fiona Apple an der Speerspitze New Yorker Künstlerinnen Konkurrenz.
Annie Clark, alias St. Vincent wurde schon häufig mit David Bowie verglichen, wegen der Androgynität beider Charaktere, wegen der Extrovertiertheit und der Eigenheiten ihrer Musik. Und nicht zuletzt wegen ihrer Wandlungsfähigkeit.
Eine Sache hat Clark aber Bowie bisher voraus. Während er sich bei seinen Rollenwechseln auch mal verzettelte und gerade in den 80ern etwas verloren schien, gelingt Clark einfach alles.
2006 in der Live-Band von Sufjan Stevens, 2012 das Album „ Love This Giant” mit David Byrne, 2014 ihr erster Grammy für ihr selbstbetiteltes Album, 2019 den zweiten für „Masseducation“ – Titelsong ihres bis dato letzten Albums, mit dem sie die 80er-Jahre in herrlich neuen Gewändern präsentierte und eine Großtat über Zukunftsängste, Pillen und New York veröffentlichte.
Um New York geht es auch 2021 noch, im Speziellen etwa im wunderschön laissez-fairen „Down And Out“. Im Allgemeinen sammelt ihr sechstes Album kleine Geschichten vom Am-Boden-Sein in Downtown NYC. Von den „Absätzen der letzten Nacht im morgendlichen Zug. Vom Glamour, der schon seit drei Tagen anhält.“, wie Clark selbst sagt.
Wo „Masseducation“ noch in den grellen Farben des Time Square zeichnete, zeigt Clark auf „Daddy’s Home“ ein gänzlich anderes Gesicht. Die Platte wirkt wie ein sedierter Nachhauseweg, auf dem alles verschwimmt, weichzeichnet und die Perspektive Seltenheitswert hat.
„Live In The Dream“ ist dem Titel nach programmatisch und nicht erst mit einsetzendem Gitarrensolo auf ihrer unverkennbaren Ernie Balls Music Man Signature Gitarre geradezu pink-floyd-esque. Es ist nur eine von zahlreichen Reminiszenzen an die Siebziger. Das Video zum souligen „The Melting Of The Sun” hält sich ganz an den Stil eines 70er-Jahre Cartoons.
Selbstredend kommt das alles nicht von ungefähr: Als vor zwei Jahren Clarks Vater nach knapp zehn Jahren aus dem Gefängnis kam, fing sie an, die Songs für „Daddy’s Home“ zu schreiben, die sie ob der Umstände, unweigerlich in Ihre Kindheit zurückversetzen und von den Platten geprägt werden sollten, die sie mit ihrem Vater damals gehört hat.
Und so ist „Daddy’s Home“ vor allem auch eine delikate, melancholisch-schöne Zeitreise ins New York der Siebziger, und die Frage, wer nun für diese Stadt relevanter ist – Fiona Apple oder St. Vincent – völlig überflüssig.
Denn Fakt ist, vergangenes Jahr stand Apples „Fetch The Bolt Cutters“ im Feuilleton zurecht ganz hoch im Kurs, dieses Jahr wird es „Daddy’s Home“ sein. Und beide Künstlerinnen sind die Spitze des Beweises, dass Frauen gegenwärtig die relevantere Musik machen.