Dass Big Thief mit ihrem 2016er-Debüt „Masterpiece“ kein unbeschriebenes Blatt in der alternativen Folk- und Indie-Rock-Szene bleiben würden, das wusste man spätestes seit ihrem ein Jahr später erschienenen Zweitling „Capacity“.
Dass sich Adrianne Elizabeth Lenker und ihre instrumentelle Entourage um Buck Meek, Max Oleartchik und James Krivchenia für „U.F.O.F.“ (2019) dann sogar unter den Grammy-Nominierten für das Beste Alternative-Album wähnen durften, dürfte den wenig glitzernden und durchaus introvertiert-bescheidenen Funktionswesten- und Latzhosen-Träger:innen aus Brooklyn fast schon unangenehm vorgekommen sein.
Den Sieg trugen schlussendlich Vampire Weekend davon – sicherlich auch deshalb, weil Ezra Koenig und Co. bereits mit einem Grammy, drei veröffentlichten Nummer-1-Alben und dem weltmusikalisch glatt produziertem „Father Of The Bride“ ausgestattet, weniger Verwirrung auf der glamourösen Bühne des Staples Centers erregen würden, als eine Band, deren folkloristisches Innovationsdesign zwar schon zu diesem Zeitpunkt als legitime Weiterentwicklung des Genres betrachtet werden konnte, für den schillernden Mainstream aber nach wie vor eine Nummer zu ausgefallen war.
Seither sind zwei Jahre vergangen. Mit anderen Worten: Seither ist Pandemie. Big Thief, deren Musik, seitdem man sie das erste Mal hören durfte, mehr von immersiver Introspektion als von großen Gesten lebt, legen mit ihrem neuen Album, das den kaum spleenigen Titel „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ trägt, erneut eindrucksvoll nach.
Bereits das Cover, auf dem nichts als ein rudimentär gezeichneter Cartoon zu sehen ist, in dem ein Teddy, ein Schnabelwesen, ein T-Rex und vermutlich ein Bär am Lagerfeuer sitzend dem Leben frohlocken, lässt voraus ahnen, wie exzeptionell der Inhalt sein könnte.
Tatsächlich ist das 20-stückige Doppel-Opus bisher nicht nur das opulenteste, sondern allen voran auch Big Thiefs experimentellstes, stilversatilstes und – das kommt vielleicht unerwartet – spleenigstes.
Hierfür steht zum Beispiel ein „Spud Infinity“ paradeexemplarisch – ein angetrunken giggelnder Country-Snap, in dem sogar Lenkers Bruder mitwirkt und dabei zur maximal ironisch anmutenden Maultrommel greift.
Doch auch sparsame, leise Folk-Perlen in gewohnter Machart wie „Change“ und „Promise Is A Pendulum“, die kraftvolle Noise-Pop-Breitseite „Flower Of Blood“ oder der hallend aufheulende Feelgood-Post-Rock in „Little Things“ bezeugen die nicht-konzeptionelle, in ihrer Gesamtheit aber völlig homogene Herangehensweise von Big Thief.
Das Resultat ist ein integres Album, das unmissverständlich die Freiheiten offenbart, die einem bei einem Label wie 4AD zugestanden werden, während Columbia-Bands wie Vampire Weekend dafür eben die Alternative-Grammys einheimsen.
Oder wie Lenker kürzlich in einem Interview mit den Kolleg*innen von Pitchfork zu Protokoll gab: „Wir brauchen nichts zu sein. Wenn die Dinge seltsam oder lustig oder schlecht klingen, dann ist das so.“
Die unverfälschte Notizbuch-Lyrikerin, die ihre Emotionen noch mal furchtloser auf der Zunge trägt, als je zuvor, fleht, jault, singt, flüstert und haucht sich auf „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ durch 20 Songs, die selbst in ihren bewussten Dissonanzen immer noch von kontemplativerer Schönheit zeugen, als dies das überdimensionierteste aller Staatsorchester jemals hinbekäme.
Neben nostalgisch aufgaloppierendem Bluegrass-Twang auf „Red Moon“ oder der weltverdrossen-zerbrechlichen Akustik-Hymne „The Only Place“ sei hier noch mal besonders „Simulation Swarm“ herausgestellt.
Der Titeltrack, der als einer der ersten veröffentlicht wurde, brachte schon damals Frühling in den tiefsten Winter, Hörer*innen dabei zeitgleich in beseelte Verzückung und verschlug Omikron obendrein für 4 Minuten und 13 Sekunden in den Orbit – ein Stück vom Himmel mit minimalistischem Drum-Pattern, reduzierten Snares, einlullender Intimität und kryptischer Deutungshoheit.
So sehr jeder einzelne Song auf „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ sein unabhängiges Eigenleben beanspruchen kann, so sehr funktioniert Big Thiefs fünfter Langspieler in seiner Gesamtheit als seelenbalsamierende Klangreise durch Stil-Epochen, Drachen-Welten und Selbstreflexionen – eine Reise, die sich lohnen könnte.