Nach der erzwungenen Corona-Pause konnte das Haldern Pop Festival an diesem Wochenende endlich wieder zu alter Größe zurückfinden. Vieles ist und bleibt vertraut: Hauptbühne und Spiegelzelt auf dem Reitplatz bilden seit jeher die Konstante des Festivals, wobei auch das Wandern zwischen den Orten – vom Festivalgelände zur Kirche, zur Pop Bar im Dorf und retour – zur vertrauten Welt von Haldern gehört.
Doch einiges ist in diesem Jahr anders: Die allerorten rückläufigen Besucherzahlen sind auch in Haldern zu spüren. Etwas weniger als in den Vorjahren ist schon los. Die Schlangen vor dem Spiegelzelt – für viele Bands the place to play – bleiben in diesem Jahr aus. Das ist natürlich für die Besucher*innen komfortabel.
Dafür ist aber auch der Festivalpreis deutlich angestiegen. Auch neu: erstmals gibt es Tagestickets. Der „Pop-Taler“ aus Plastik ist passé – bezahlt werden kann nun nur noch mit einer Handy-App. Positiv gewendet: man geht in Haldern mit der Zeit, passt sich an die Gegebenheiten des Marktes an.
Dies geschieht in Haldern aber immer mit Bedacht. Ihre Seele wird das Dorf, das das Festival trägt, aber sicher auch in Zukunft nicht verkaufen. Haldern Pop wollte noch nie um jeden Preis wachsen, und das wird sich wohl auch dann nicht ändern, wenn die Konzertmisere vorbei ist.
In ökonomischer Hinsicht beweisen die Macher*innen aus Haldern ein ebenso gutes Gespür wie beim stets geschmackssicher zusammen gestellten Line-Up. Maßhalten ist das Gebot der Stunde. Aus den Materialschlachten im Konzertgewerbe will sich Festivalleiter Stefan Reichmann bewusst raushalten: „Wir wollen das Wachsen den Künstler*innen überlassen und nicht dem Material.“
Den Menschen und die Kunst ins Zentrum rücken und sie jenseits von Fragen der Verwertbarkeit wirken zu lassen, diese Leitmotiv bringt der diesjährige Festivalslogan „Volkswirkschaft“ auf den Punkt.
Zum musikalischen Geschehen: Das Festival startet gemächlich, als müsste ein eingeschlafener Riese erst einmal die müden Glieder recken, bevor er sich erhebt. Der Beginn verzögert sich. Eigentlich sollten Yard Act im Spiegelzelt eröffnen, mussten aber kurzfristig absagen. The Physics House Band springen ein, auf der Hauptbühne erhalten Wu-Lu, eine weitere britische Band, das Privileg, den Startschuss zu geben.
Das erste Glanzlicht setzt Grace Cummings. Die Australierin aus Melbourne zieht das Publikum mit einer für ihr junges Alter erstaunlichen Bühnenpräsenz in den Bann. Während sie sich auf ihrem aktuellen Album „Storm Queen“ folkig und mit einem reduzierten Sound präsentiert, tauscht sie live die akustische Gitarre gegen eine Flying V und schmettert mit ihrer Reibeisenstimme ein „Ave Maria“, das vermutlich noch bis zur Kirche im Dorf zu hören gewesen sein wird. Der erste Gänsehautmoment des Tages.
Die Hauptbühne entwickelt sich im Laufe des Festivals zum Ort ausdrucksstarker Inszenierungen. Den ersten theatralischen Beitrag liefern sechs bunte Vögel aus Wien. Buntspecht verwandeln Kammermusik (Gitarre, Cello, Kontrabass) in einen irren Mix aus Folk und Bossa Nova und erweisen sich auch bei der Kleiderwahl vielen Stilen zugewandt: Sänger Lukas Klein spielt vor bunter Hintergrundkulisse im roten Rock, der Cellist mit silbernem Glitzerjacket und Saxofonist Roman Geßler steuert in schwarzem Gewand mit Friedhofsschminke den morbiden Kontrapunkt bei. Typisch Wien?
Ganz ohne Drama kommt der Auftritt von Nilüfer Yanya aus. Die Londonerin verharrt nahezu bewegungslos auf der Bühne. Dafür ist ihre klare Stimme so einnehmend wie ihr pointiertes Gitarrenspiel. Die Songs werden von einem super tighten Schlagzeug (Ellis Dupuy) und den variantenreichen Läufen der Bassistin im Zaum gehalten. Mit den sich darauf schichtenden Synthie- und Saxophonklängen leuchtet das Pop in Haldern strahlend hell. Perfekte Abendstimmung.
Was dann auf der Hauptbühne folgt, ist für viele der vorweg genommene Festivalhöhepunkt. Die Spatzen pfiffen es zwar bereits von den Dächern, aber erst kurz vor Beginn des Festivals wurde das Geheimnis um den Main Act des Eröffnungstages offiziell gelüftet: Beatsteaks. Dass eine Band, die schon so lange am Start ist, noch so viel Bock am eigenen Spiel haben kann, ist bemerkenswert. Die Freude steht ihnen in der Donnerstagnacht („Fühlt sich an wie Samstag“) sichtbar ins Gesicht geschrieben.
Im Handumdrehen hat Sänger Arnim Teutoburg-Weiß das Publikum im Griff und dirigiert die Menge nach Belieben: „Wir weihen jetzt den Platz ein.“ Die Band zündet mit einer Reihe an Klassikern, dem Tocotronic-Cover „French Disco“ und einer Freddy-Mercury Einlage zum Finale („I Want To Break Free“) ein anderthalbstündiges Feuerwerk ab, während der Vollmond staunt und rund vom Himmel glotzt.
Den Schlusspunkt setzten Dry Cleaning. Die Dark Wave Band aus Südlondon lädt zu später Stunde noch einmal ins Spiegelzelt. Wer bis hierhin durchgehalten hat, wird reich belohnt. Die charismatische Florence Shaw kreiert mit monotonem Sprechgesang, grimassenhaften Minenspiel und Schamanenrassel eine ganz spezielle, düstere Atmosphäre, der sich niemand entziehen kann.
Neben ihr sticht Gitarrist Thomas Dowse hervor, der mit seinen effektvollen Riffs die Akzente setzt und auch sonst ein echter Hingucker ist: mit schlackernder Zunge, von einem auf das andere Bein tänzelnd; zwischen den Liedern mit halb-drohender Faust an das Publikum gewandt. Möchte man ihm auf dem Weg zurück zum Campingplatz im Dunkeln begegnen? Vermutlich nicht.
Am zweiten Tag geht es erstmal in die Kirche. Das klassische Künstlerkollektiv stargaze trifft auf 1000 Robota. Begleitet von Cantus Domus interpretieren sie zwei Kraftwerk-Stücke. Nach den meditativen Atemübungen unter Einbeziehung des Publikums folgt eine epische Fahrt auf der „Autobahn“, Anton Spielmann singt, begleitet von Orchester, Chor und seiner Band. In sakraler Umgebung bahnbrechend schön umgesetzt. Das Publikum lauscht andächtig und bedankt sich mit tosendem Applaus.
Zurück im Spiegelzelt das Kontrastprogramm: Gustaf aus Brooklyn bringt das Zelt mit punkigen Grooves zum Tanzen. Angeführt von der extrovertierten Sängerin Lydia Gammill, entpuppt sich die Band mit zackigen Gitarren und Wechselgesang als die ungezogene kleine Schwester von B52s.
Auf der Hauptbühne betonen Shame die maskuline Seite energiegeladener Rockmusik aus England. Eddie Green dominiert mit rotzigem Gesang, während der quirlige Gitarrist von links nach rechts und wieder zurück über die Bühne sprintet und sich dabei beinahe im Gitarrenkabel verheddert. Ein starkes Set, aber vielleicht wäre die Band im Zelt doch besser aufgehoben gewesen.
So wie bei Squid, eine weitere Post-Punk Band von der britischen Insel, die am späteren Abend eines der stärksten Konzerte im Spiegelzelt spielen. Im Zentrum Schlagzeuger und Sänger Ollie Judges, der seinen nervösen Gesang mit treibenden Beats eigenhändig vorantreibt, während die Band mit quietschenden Gitarrensounds, Synthie und Trompete ein Inferno veranstaltet, das seinesgleichen sucht.
Wie man die Main Stage auch ohne viel Personal ausfüllen kann, stellen am Freitag und Samstag Anna Calvi und Kae Tempest unter Beweis. Wenn auch die Musik der beiden gar nicht zu vergleichen ist, bei ihren Auftritten strahlt ihre Präsenz hell in den Himmel.
Calvi thront mit ihrer Gitarre in weißes oder rotes Licht getaucht dramatisch in der Bühnenmitte. Dass sie noch von einem Schlagzeuger und Keyboarderin begleitet wird, ist zwar zu hören, aber kaum zu erkennen. Alle Blicke auf sich gelenkt, überzeugt die Britin mit ihrer raumgreifenden Stimme, in ruhigeren Stücken genauso wie bei den Rockexplosionen, wenn Calvi Jimi-Hendrix-gleich ihre Gitarre malträtiert und sich dabei auf dem Boden wälzt.
Mit ihrem Spoken-Word-Stakkato und elektronischem Soundgewitter gelingt es Kae Tempest am Folge-Tag, in ganz ähnlicher Weise das Publikum zu begeistern.
Ein weiteres Showhighlight auf der Main Stage sind Shortparis. Theatralisch inszeniert, mit orientalischem Gesang, elektronischen Noiseklängen und einem um sich dreschenden Steh-Schlagzeuger verleitet die russische Band nicht nur zum Tanz, sondern brennt auch Bilder in den Kopf.
Ein solches Spektakel hätte man sich von black midi, die zu später Stunde mit einer Boxkampfansage in den Ring des Spiegelzeltes steigen, auch erhofft. Leider wirken sie vollkommen lustlos und haben außer Lärm nicht viel zu bieten. Dabei drehen sie den Bass so laut, dass allen im Rund die Hosenbeine flattern. Die bekannten Sachen spielen sie nicht; Sänger Geordie Greep hält sich zugunsten des in der Band zunehmend Raum einnehmendem Bassisten vornehm zurück, und auch das Fehlen des Saxofonisten macht sich bemerkbar. Schade.
Den Lärm, der noch in den samtenen Stoff des Zelthimmels hängt, kehren Erdmöbel am frühen Samstagnachmittag mit einer harmonischen Brise aus dem Spiegelzelt. Die Kölner Band präsentiert ihr neues Album „Guten Morgen, Ragazzi“ und gibt dem Festival nach der Lesung von Eric Pfeil („Azzuro“) und dem schlagerhaften Auftritt von Extraliscio eine weitere italienische Note. „Felicità ist ein ziemlich langes Wort für Glück“ singt Markus Berges und „diese Affenhitze liebe ich“, was jedoch in Anbetracht der tropischen Hitze nicht jeder der Anwesenden unterschreiben würde.
Was sich danach im Spiegelzelt abspielt ist mit markerschütterndem Gewitter noch milde umschrieben. Thumper zerlegen mit ihrem melodischen Power-Punk-Rock das Zelt in seine Einzelteile. Die Gitarren heulen auf, die Autotür geht auf, bitte einsteigen. Die irische Band drückt das Gaspedal bis zum Boden durch. Anschnallgurte gibt es nicht. Zum Ende des Sets bildet die Band ein Spalier und lässt einen der Gitarristen tanzen. Frontmann Oisin Furlong gönnt sich eine Runde Crowdsurfing. Der wohl punkigste Moment des Festivals.
Haldern Pop befindet sich auf der Zielgeraden. Mit der New Yorker Band Parquet Courts haben sich die Macher*innen des Festivals ein weiteres Juwel im Line-Up gesichert. Und sollte irgendwer am dritten Festivaltag in ein vorübergehendes Loch gefallen sein, spätestens mit „Wide Awake!“ ist die Müdigkeit wieder aus den Knochen verschwunden.
Es folgen die Wiederholungstäter: Sowohl BadBadNotGood, Kae Tempest als auch Robocobra Quartett sind zuvor auf dem Festival aufgetreten.
Als Sahnehaube zum Schluss präsentiert sich die gerade schwer gehypte Band Wet Leg. Trotz vorgerückter Stunde ist das Zelt noch rappelvoll. Den Frontfrauen Rhian Teasdale und Hester Chambers gelingt es mit spielerischer Leichtigkeit, die Menge zum Tanzen zu bringen. „Chaise Longue“ ist der zu erwartende Siedepunkt. Over and out. Zum Runterkommen gibt es einen Rausschmeißer vom Band: „Careless Whsiper“. Das hat es gebraucht, um den Adrenalinpegel für den Nachtschlaf zu senken.
Das Haldern Pop Festival ist und bleibt ein Kleinod in der deutschen Festivallandschaft. Mit einem anspruchsvollen, stil- und genreübergreifenden Programm am Puls der Zeit, mit einem guten Gespür für Bands, die im Kommen sind. Immer unterwegs mit Augenmaß, ohne den Bogen zu überspannen.
Mit einem Dorf, das dem Festival das Leben einhaucht, wie auch umgekehrt das Festival aus dem Dorfleben nicht mehr wegzudenken ist. Mit einer durchweg entspannten und familiären Atmosphäre, wo nicht der eine Geschmack dominiert, sondern sich ein jede*r das raussuchen kann, was er oder sie mag.
Wo man aber auch immer wieder Neues entdecken kann, ein Ort, zu dem man immer wieder gerne zurückkehrt. Ein Stück Heimat auf dem Lande. Stefan Reichmann spricht davon, man wolle sich die Offenheit und das Spielerische bewahren. Meine Zeltnachbarn haben dafür den treffenden Begriff gefunden: Haldern Pop, die „Ravensburger Spielekiste“ unter den deutschen Festivals.