Veröffentlichungen von Kanye West sind schon seit geraumer Zeit mehr als nur Alben. Mit seinen nachträglichen Verbesserungen an „The Life Of Pablo“ machte der Yeezy-Schuster auch den letzten Musikromantiker*innen bewusst, dass das Album als abgeschlossenes und zeitloses Produkt im digitalen Zeitalter ausstirbt.

In „ye“ deckte der kultgewordene Superstar dann selbst auf, warum sein überraschendes Engagement für Donald Trump vielleicht doch nicht ganz so überraschend war  – schließlich offenbarte das kurze Album auch seinen Hang zur verzerrenden Deutungshoheit über die eigene Existenz.

„JESUS IS KING“ markierte den vorübergehenden Abschluss, die Läuterung, ein Plädoyer für einen göttlichen Kollektivismus, an dessen Zentrum aber doch immer nur einer stehen konnte: Ye.

„Donda“, das West nach seiner verstorbenen Mutter benannte, fügt sich nahtlos ein in diese Riege problembehafteter Veröffentlichungen. Etliche Verschiebungen und Listening Parties, zwischen denen sich West in der traurigsten Promi Big Brother Folge aller Zeiten filmen ließ, gipfelten schlussendlich in einem Surprise-Drop am heutigen heiligen Sonntag, passend zur Ye-Messe.

Sonstige Skurrilitäten? West trug während des Sleepover-Livestreams eine Sturmmaske, die weder vor Covid schützt, noch davor, als Ye erkannt zu werden. Einen MP3-Player in Form eines gigantischen Minzbonbons soll es auch noch geben, passend zum Albumrelease. Der „Donda Stem Player“ lässt die Fans selbst Hand anlegen und Donda in Samples, Loops und Ebenen in seine Einzelteile aufteilen. Preis: über 200,- Dollar.

Musikalisch ist „Donda“ definitiv ein Produkt der vergangenen Alben. Gospel-Sequenzen wechseln sich mit gefühlvollen Balladen wie „Moon“ ab, die mehr nach „Kids See Ghost“ klingt als nach Wests Solo-Alben, und der futuristische Brutalismus aus „The Life Of Pablo“ scheint in Tracks wie „Jail“ durch.

Zahllose Features passen sich dem Genre an, das West im jeweiligen Song anspielt und vollenden das mosaikhafte Gesamtprodukt. „Donda“ ist kein Konzeptalbum in dem Sinne, dass Sound und Text durchgehend eine einheitliche Sprache sprechen.

Stattdessen wird dank „Donda“ immer deutlicher, dass West nicht mehr die Musik revolutionieren wird, sondern darauf abzielt, die medienkulturelle Einschätzung seiner Person und des Mediums an sich zu revolutionieren.

Kaum ein Künstler lebt so sehr von der Selbstinszenierung wie Kanye West. Die Listening Parties, die schon bei „Ye“ einen Mythos um die Nähe zum idolisierten Künstler schufen, haben bei „Donda“ ein neues Niveau erreicht:

Wie die Madonnen, die den gläubigen Kirchengänger*innen früher in der Arbeitswoche verschleiert blieben, um in der Messe gemeinsam rezipiert zu werden, lässt auch West eine Aura um sein Schaffen entstehen, die im Zeitalter des Musikstreaming bemerkenswert ist.

Selbst das streambare Album wirkt vergänglich, als könne es in wenigen Stunden schon halb oder doppelt so lang sein, vielleicht sogar ganz gelöscht. Und selbst der „Donda Stem Player“ wirkt wie der Versuch, denen, die dem Kult Kanyes folgen, eine Madonna in die Hand zu drücken, die ihnen die Macht gibt, „Donda“ selbst zu dekonstruieren.

Walter Benjamin schrieb vom „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und prognostizierte die Zerstörung der Aura, Kanye stellt die Reproduzierbarkeit in Frage und macht aus dem millionenfach streambaren Album wieder ein scheinbares Unikat.

Und das allein könnte schon genügen, um die Aura wieder aufleben zu lassen.

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